Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Glas und ließ sich ihm gegenüber nieder. »Guten Abend, Calvin.«
»Michael.«
»Tut mir leid, dich zu stören, wenn du außer Dienst bist …«
»Ich bin nie außer Dienst.«
Michael nickte. Das stimmte. Er erzählte dem Polizisten von der entlegenen Siedlerhütte, wo sie die Überreste eines Camps gefunden hatten, und wie Jarrah auf das flach getretene Kikuyu-Gras und die Spuren im Staub gedeutet hatte. Anzeichen dafür, dass ein Treiber mit einer Rinderherde vorbeigekommen war. Jarrah hätte Michael vermutlich genau sagen können, um wie viele Rindviecher es sich gehandelt hatte, wenn er es denn hätte wissen wollen. Der von Calvin gesuchte Mann hatte in der Hütte wohl einige Nächte verbracht und war dann, als sich die Möglichkeit bot, mit einem Viehhändler mitgezogen. Höchstwahrscheinlich würde er weit vor den nördlichen Ebenen merken, dass das Leben eines Treibers nicht zu einem Seemann passte. Er würde zurückkommen und Calvin ihn erwarten.
»Das ist aber noch nicht alles«, erklärte Michael, als er seinen Bericht beendet und einen tiefen Zug genommen hatte. »Ich wollte mal fragen, ob du für mich vielleicht Erkundigungen über einen Passagier auf der Rajah einholen könntest.«
»Der Transport, mit dem diese Mahoney kam? Könnte das etwas mit dem Tod auf diesem Transport zu tun haben, von dem ich dir erzählt habe?«
»So ist es. Vielleicht werde ich auch nur langsam plemplem, aber ich hab so ein komisches Gefühl, dass es eine Verbindung zwischen dem Quäker gibt, der in Bombay gestorben ist, dem Mord auf der Rajah und Rhia Mahoney.«
»Ich hoffe, du sagst mir nicht als Nächstes, dass sie da mit drinsteckt, Michael?«
»Nie im Leben.«
»Das ist gut, denn sie wurde freigesprochen.«
»Du lieber Himmel. Was? Bist du sicher?«
»Ganz sicher. Ich war heute im Büro des Gouverneurs, um meinen Papierkram zu übergeben, und da habe ich ihren Namen auf der Liste gesehen.«
»Mich laust der Affe. Das hier wird ja immer seltsamer. Du könntest nicht zufällig an dieses Dokument kommen und alles ein wenig beschleunigen?«
»Natürlich kann ich das, Michael. Wozu trägt man einen Hut wie ein Spielzeugsoldat, wenn man nicht ab und an die Vorschriften ein wenig umgehen kann.« Er erhob sein Glas. »Cheers, auf die Befreiung der verdammten Iren.«
Michael grinste und erhob ebenfalls sein Glas. »Aye. Cheers.«
56
J ACARANDA
Rhia erkannte den Mann in der Besucherzelle nicht. Sie nahm an, dass er sich eine Frau kaufen wollte. Die Linien, die in sein Gesicht gegraben waren, und das Parramatta-Hemd zeichneten ihn als Sträfling aus, oder vielleicht als ehemaligen Sträfling.
Dann lächelte er, und sie wusste sofort, wen sie vor sich hatte.
»Du bist erwachsen geworden«, stellte Michael Kelly fest, »auch wenn du mit Haaren besser ausgesehen hast.« Der Anblick von Michael Kelly, hier am Ende der Welt, war umwerfend. Rhias Freude war so unbändig wie all die Ozeane, die sie überquert hatte, nach all den Monaten der Angst und Einsamkeit. Sie streckte die Hände über den Tisch und griff nach den seinen. Michaels Hände waren inzwischen rau und sonnenverbrannt, doch er hielt ihre fest, als könnte sie versuchen zu entkommen.
Als ob sie das je täte.
Sie hielt die Tränen zurück und konnte sehen, dass es ihm genauso ging.
»Ich habe etwas für dich.« Er griff in seine innere Westentasche und legte einen dicken braunen Umschlag auf den Tisch. Rhia hob ihn hoch, doch ihre Hände zitterten so sehr, dass sie nicht sicher war, ob sie ihn überhaupt öffnen konnte. Sie drehte ihn um. Das Siegelwachs war scharlachrot. Rhia betrachtete es genauer, um die Insignien zu erkennen.
»Es ist das Siegel des Gouverneurs von New South Wales«, erklärte Michael leise. Das sagte Rhia nichts. Sie drehte sich nach der Vorsteherin um, die mit verschränkten Armen und gehobenen Augenbrauen hinter ihr stand.
»Von denen kriegen wir nicht allzu viele zu Gesicht«, grunzte die Vorsteherin, aber ihre Stimme war weniger aggressiv. Normalerweise sprach die Frau in einem leisen Knurrton, als sei sie eine Art Schäferhund. Nun zuckte sie bloß mit den Schultern. »Na, dann machen Sie ihn mal besser auf, was, Mahoney?«
Rhia erbrach das Siegel. Das Schriftstück war kurz, nur wenige Zeilen lang. Beim Lesen sackte Rhia völlig in sich zusammen. Michael machte keine Anzeichen, sich in ihr Schluchzen einzumischen, außer um ihr sein Taschentuch zu reichen und zu versichern, dass es sauber war. Die Vorsteherin blieb stumm,
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