Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
trotz des Lärms, den Rhia machte.
»Ich vermute mal, das sind Tränen der Freude?«, erkundigte sich Michael, als es Rhia gelang, sich zusammenzureißen.
Sie lachte, und das Geräusch überraschte sie. Wann hatte sie zum letzten Mal gelacht? Sie betrachtete das Blatt Papier vor sich und las wieder den einzigen wichtigen Satz: Dieser Entlassungsschein wurde für die Gefangene Ihrer Majestät Rhiannon Mahoney ausgestellt … Es stand auch ein Datum darauf, doch es bedeutete ihr nichts: 4. Oktober 1841. Das könnte morgen sein oder schon vor Wochen. Sie hatte den Überblick verloren. Rhia blinzelte und richtete sich auf – sie spürte, wie Freiheitsgefühle ihre Wirbelsäule hinaufstiegen und ihre Gliedmaßen erfassten.
»Aber weshalb bringen Sie mir meinen Straferlass, Mr Kelly?« Sie hätte ihn eine Menge Dinge fragen können: Warum sind Sie immer noch in Australien? Woher wissen Sie, dass ich hier bin? Was um alles in der Welt mache ich jetzt? Sie war voller Fragen, aber ihr war zu leicht ums Herz, als dass ihr an den Antworten wirklich etwas gelegen hätte.
»Sagen wir einfach, ich kenne da jemanden.«
Rhia versuchte zu verstehen, was das Dokument in ihren Händen eigentlich bedeutete. »Dann hat derjenige, der das Verbrechen begangen hat, es zugegeben?«
Michael lachte freudlos. »Wie schön zu hören, dass jemand immer noch an das Gute im Menschen glaubt, sogar nachdem du fast ein halbes Jahr in der Gesellschaft von Gefangenen verbracht hast.«
»Ich habe fast ein halbes Jahr in sehr guter Gesellschaft verbracht und das eine oder andere dabei gelernt.« Beides wurde Rhia genau in diesem Moment klar, und sie war plötzlich wieder völlig überwältigt.
»Das sehe ich, aber wir nehmen hier die kostbare Zeit der werten Vorsteherin in Anspruch. Ich gehe davon aus, dass du nicht viel Hab und Gut besitzt?«
»Nur eine Truhe unter Verschluss.«
»Eine Truhe! Du reist also mit Stil. Bei Sonnenuntergang legt ein Kahn in Parramatta ab, der morgen kurz nach Sonnenaufgang in Sydney ankommt.«
Die erste Reise Richtung Freiheit. Es musste sich um einen Traum handeln.
Sich von der Frauenfabrik zu verabschieden dauerte nicht lange. In der kalten Spinnstube traten Jane sofort die Tränen in die Augen, und Georgina tat so, als freue sie sich für Rhia. Rhia hatte nicht erwartet, beim Abschied Traurigkeit zu verspüren, aber diese Frauen waren ihre Familie geworden. Nun hatten sie plötzlich nichts mehr gemein, und sie wussten es alle. Wahrscheinlich dachten sie, Rhia würde sie vergessen. Als ob das möglich wäre.
Nora und Agnes befanden sich mit einem Dutzend anderer im Küchengarten, wo sie in ihren dicken braunen Schürzen zur Strafe für ihren unbeugsamen Willen die Erde umgruben. Nora richtete sich auf, als sie Rhia sah. Sie stand reglos da, auf ihren Spaten gestützt, der Aufseherin am anderen Ende des Beetes zum Trotz. »Hab ich dir nicht gesagt, dass es nicht für immer sein würde, Mahoney? Unseren Segen hast du, nicht wahr, Agnes?« Agnes nickte, aber sie war nicht mutig genug, mit dem Graben aufzuhören. »Wir haben immer gewusst, dass du keine Diebin bist«, erklärte sie mit ihrem listigen Grinsen.
»Na, dann vielen Dank«, erwiderte Rhia mit einem kleinen Lachen. Sie würde nicht weinen. Sie hatte sich nie getraut, vor Nora zu weinen, und sie würde jetzt auch nicht damit anfangen.
»Grüß das nasse graue London von mir, und vergiss uns nicht!«, war alles, was Nora noch sagen konnte, ehe die Aufseherin sich einmischte, indem sie Rhia böse anfunkelte und Nora einen Rippenstoß verpasste, um sie wieder an die Arbeit zu drängen. Nora zwinkerte ihr zu und grub weiter, wobei sie fröhlich vor sich hin summte, was die Aufseherin nur noch mehr verärgerte.
Aus den Schlafräumen holte Rhia ihr rotes Buch unter dem Bettzeug hervor und verließ, ohne einen Blick zurück, den letzten Ort, an dem sie je von Freiheit träumen würde.
Im Büro der Vorsteherin, wo sie etwas unterschreiben musste, lauschte sie unaufmerksam emotionslosen Worten der Warnung und diversen Ratschlägen: Die Welt war voller Versuchungen und Sünden, und Rhia bekam eine zweite Chance. Sie wandte sich ab, während die Vorsteherin immer noch knurrte, und ging zur Tür hinaus.
Michael holte sie mit einem Karren an der Pforte ab, auf den ihre Koffertruhe geladen und mit einem Seil festgebunden war. Sie fuhren auf einer breiten, staubigen Straße durch Parramatta, die an beiden Seiten von niedrigen Häusern gesäumt wurde. An vielen
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