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Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)

Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)

Titel: Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kylie Fitzpatrick
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Sichel kaum sichtbar am blassgrauen Himmel. Das Meer seufzte rhythmisch. Rhia presste ihre Fersen sanft in Eponas Flanken, und die Stute warf den Kopf zurück und steigerte ihr Tempo. Rhia beugte sich über ihren Hals, und sie bewegten sich wie eine Einheit, als Epona in einen leichten Galopp fiel. Dabei klapperten ihre Hufe auf dem Schiefergestein wie Kastagnetten. Die Kapuze von Rhias Mantel wehte zurück. Die Luft war frisch und salzig, und die Feuchtigkeit setzte sich in ihren Haaren fest. Für einen Moment schloss sie die Augen.
    Die Nachtmeerfahrt .
    Die Reise zu den fernen Küsten der eigenen Ängste. Es war jedoch das Meer selbst, vor dem Rhia sich am meisten fürchtete.
    Das Cottage der Kellys befand sich am Rande des Dorfes, in der nächsten Bucht. Dort lag Sand vor der Pforte anstelle des Schiefers. Michael Kelly hatte einmal gesagt, er müsse den Ozean sehen können, um sich daran zu erinnern, dass sich an seinen Ufern eine Welt erstreckte. Rhia bezweifelte, dass er daran jemals wieder erinnert werden musste.
    Als Kinder hatten Rhia und Thomas auf Schemeln neben Michaels Webstuhl gesessen und ihm zugesehen. Er hatte ihnen beiden das Weben beigebracht und sie gelehrt, dass Flachs eine der ältesten Fasern der Welt war. Außerdem hatte er ihnen gezeigt, wie man den weichen, biegsamen Halm der Pflanze einweichen musste, damit man die einzelnen Fasern voneinander trennen konnte. Daraus ließ sich ein ganz feines Garn spinnen. Flachs war nämlich eine ganz besondere Faser, die viel schwieriger zu verarbeiten war als Wolle oder Baumwolle. Wurde er von Hand versponnen, dann entstand daraus ein besonders hochwertiges Tuch. Denn eine Spindel und Hände, so geschickt wie die von Annie Kelly, konnten Garne jeglicher Stärke produzieren. Maschinen dagegen konnten nur grobe Fäden herstellen. Annie Kelly spann alle Arten von Leinengarn. Feines für Spitze, Batist und Damast und Gröberes für Stricke, Papier und Segeltuch.
    Rhia erreichte die Rückseite des Cottages und band Epona an den Zaunpfosten. Das Gebäude hatte die Form einer Scheune und war größer als die Behausungen der meisten Weber in Greystones. Thomas sah sie durchs Fenster und winkte sie herein. Er saß am Webstuhl. Die Kellys waren äußerst fleißig. Sie produzierten derart perfekte Muster, dass ihre Stoffe immer Abnehmer fanden.
    Die Hintertür war niemals verriegelt. Der lange, schmale Raum, der auf die Irische See hinausblickte, war sparsam möbliert, um Platz für zwei altertümliche Webstühle zu schaffen, einen für Leinen, den anderen für Wolle. Sie waren beide aus knorriger Eiche gehauen und dunkel vom Alter. In der Mitte des Raums befand sich eine große Feuerstelle, und über den züngelnden Flammen hing an einem Haken ein geschwärzter Topf. Ein funkelnder Kupferkessel leuchtete wie eine Laterne auf seinem Steinsims. All das war so vertraut, dass Rhia beim Gedanken an den bevorstehenden Abschied hätte weinen können. Weder Thomas noch Annie hielten in ihrer Arbeit inne, als Rhia eintrat. Sie erwartete das auch nicht. Man unterbrach den Rhythmus von Webstuhl und Spinnrad nicht einfach ohne Grund.
    »Guten Morgen«, begrüßte Annie sie mit einem Lächeln. Annie lächelte immer, ganz gleich, wie sehr sie ihren Mann vermisste oder wie viel Garn sie noch zu spinnen hatte. »Da ist Brühe im Topf, und du weißt ja, wo das Brot ist.«
    Thomas sagte nichts, als sich Rhia eine Schüssel mit Brühe und ein dickes Stück Brot aus dem Vorratsschrank nahm. Sie ließ sich auf einen Schemel neben Annies Spinnrad nieder und sah zu, wie Thomas das Pedal trat und seine Hände über die Schiffchen fliegen ließ, als wären sie eine Verlängerung seines Körpers. Er ähnelte seiner Mutter mit dem welligen kastanienbraunen Haar und der milchweißen Haut. Seine Hände und Unterarme waren kräftig und sehnig. Er war immer sehr still, aber sein Schweigen verriet unterschiedliche Stimmungen. Rhia merkte, dass er heute grübelte.
    Annie sah von einem zum anderen, dann wickelte sie ihre Garnspule auf und ließ sie in den Korb zu ihren Füßen fallen. Sie berührte Rhia an der Schulter. »Ich muss Leinen auskochen. Bleib nicht ewig weg, ja? Wir werden dich vermissen.« Annie küsste sie auf beide Wangen und umarmte sie hastig. Dann eilte sie davon.
    Rhia schluckte ihre Tränen hinunter und trat ans Fenster neben dem Webstuhl. Sie wartete, dass Thomas etwas sagte. Endlich nahm er den Fuß vom Pedal.
    »Also dann, Rhia.«
    »Also dann.«
    »Meinst du, dass du

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