Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Ornament auf dem Stift nach, als wäre es ein Stoffmuster. Es war ein schlichter Dreifachknoten, das älteste Ornament, das Zeichen der Göttin. Mamo wandte sich ab und kniete neben dem Holzkorb nieder. Sie suchte ein Reisigbündel. »Schreib mir«, sagte sie.
Rhia lachte. »Aber du kannst doch gar nicht lesen! Und außerdem bist du …« Sollte sie das Offensichtliche aussprechen? Lieber nicht. Mamo war schnell beleidigt.
Mamo schnalzte verdrossen mit der Zunge. »Behalt die Briefe einfach. Und wenn du wieder heimkommst, kannst du sie mir vorlesen.«
»Das könnte ich …«, antwortete Rhia. Aber sie wusste, dass sie das wohl eher nicht tun würde. Außerdem wollte sie nicht, dass ihre Großmutter oder irgendein anderer Geist auf sie wartete, wenn sie nach Hause kam. Sie hatte genug von Geistern.
»Also gut.« Mamo setzte sich. »Und jetzt hab ich eine Geschichte für dich.«
Mamos Geschichten entsprangen dem grenzenlosen Schatz der Ahnen. Sagen, die von Generationen von keltischen Sängern wieder und wieder erzählt worden waren. Einige davon waren niemals aufgeschrieben worden, manche nicht hundertprozentig irisch, aber auch nicht ganz walisisch, wie Mamo selbst. Sie erklärte immer, dass sie eine Nachfahrin der Tuatha de Danaan , dem Stamm der großen Göttin Anu , war, der alle diese Geschichten bewahrt hatte. Connor Mahoney hatte stets das Zimmer verlassen, wenn Mamo von den Tuatha angefangen hatte, wenn ihre perlgrauen Augen dunkel wie Granit wurden.
»Es gibt da eine Geschichte über Rhiannon , die ich dir noch nie erzählt habe. Sie handelt von der Zeit, als sie sich in Pwyll verliebt, ihn ins Jenseits gebracht, und man sie fälschlicherweise angeklagt hatte. Nachdem das alles geschehen war, wurde sie die Frau von Manannan , dem Gott des Meeres.«
Rhia hatte eigentlich gedacht, sie würde alle Erzählungen über Rhiannon, ihre Namenspatronin, die sich zwischen dem Jenseits und der Menschenwelt hin und her bewegte, bereits kennen. Sie wusste, dass Rhiannon ein weißes Pferd ritt, einen purpurroten Mantel trug und immer von drei Zaubervögeln begleitet wurde. Auf geheimnisvolle Weise war sie eins mit Anu, der großen Göttin, gleichzeitig aber auch ein eigenständiges Wesen. Ihr Leben war voller Leiden und Verrat, denn sie musste sich stählen, um das Werk der Göttin zu verrichten.
Rhia lauschte Mamos Geschichte, doch sie war lang, kompliziert und voller gälischer Namen. Also ließ sie ihre Gedanken schweifen. In wenigen Stunden würde sie nach London aufbrechen. Mamo hatte ihr zuvor schon einmal einen Besuch abgestattet, in der ersten Nacht, und ebenso unerbittlich darauf bestanden, dass Rhia die Reise antreten sollte, wie Rhia sich weigern wollte. Sie hatten die halbe Nacht deswegen gestritten. Schließlich hatte Mamo erklärt, dass dies ihr Haus sei und sie Rhia nicht länger hier haben wollte. Sollte Rhia bleiben, dann würde Mamo bleiben. Das gab dann den Ausschlag. Es sei an der Zeit, meinte ihre Großmutter, dass Rhia die Nachtmeerfahrt unternahm.
Brigit war fassungslos gewesen, als Rhia verkündete, dass sie nun doch nach London reisen würde, aber sie fragte nicht näher nach. Vielleicht wollte sie es gar nicht wissen.
»Wenigstens hat deine Mutter auf mich gehört, als es um deinen Namen ging«, sagte Mamo gerade. Ihr Vater hatte sie nämlich Mary nennen wollen. »Also wirklich, sie muss sich einfach mehr gegen ihn durchsetzen«, erklärte Mamo kopfschüttelnd. »Ich hab sie doch nicht dazu erzogen, so dumm zu sein.«
»Sie ist nicht dumm, sondern sie behandelt ihn einfach respektvoll.«
»Respektvoll!«, zischte Mamo verächtlich. »Das hat doch nichts mit Respekt zu tun, wenn man sich seinem Ehemann völlig ausliefert. Es ist viel respektvoller, wenn man sich und seinen Gatten gleichermaßen achtet.«
Rhia wollte nicht noch eine Vorhaltung oder eine weitere Tirade gegen ihren Vater hören. »Erzähl mir, wie es mit Rhiannon und Manannan weiterging«, bat sie deshalb.
Epona stand still wie eine Statue und nahm gnädig einen Apfel entgegen, während Rhia sie in der Dämmerung im Hof sattelte. Ihre weichen grauen Ohren zuckten, als könnte die Stute den aufgeregten Rhythmus von Rhias Herzklopfen hören und wüsste, dass etwas anders war.
Nur die Laterne des Bäckers war angezündet, als Rhia durch das Dorf hinunter zum Meer ritt. Thomas aber war wahrscheinlich schon wach und saß an seinem Webstuhl. Das Schiefergestein funkelte, denn es war gerade Ebbe. Der Neumond hing als schmale
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