Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
nicht damit, sie jemals wiederzusehen, wenn er ging. Die Tatsache, dass sie außerdem die Puffmutter eines ordentlich geführten Bordells war, spielte für ihn keine Rolle. Jeder musste irgendwie leben. Nachdem das Geschäft oben gut lief, war die Miete für Michaels Kellerraum niedrig. Außerdem kümmerte sich Maggie ebenso wenig um seine Angelegenheiten wie er sich um die ihren. Immer noch gab es in der Siedlung so wenige Frauen, dass es absolut einleuchtend war, für ihre Gesellschaft zu bezahlen. Auf diese Weise hatte jeder etwas davon.
Michael wusste sofort, als er die Gartenpforte öffnete, dass etwas nicht stimmte, denn die Fensterläden waren geschlossen und verriegelt. Und die Gaslaterne, die normalerweise als Zeichen für die Freier, dass alles in Ordnung war, auf der Veranda flackerte, war nicht angezündet. Er vermutete, dass die Gesetzeshüter zu Besuch gewesen waren. Höchstwahrscheinlich war es ihnen jedoch nicht um ein unbedeutendes Bordell gegangen. Was also hatten sie dann gewollt? Vielleicht Informationen. Maggie war die Wortführerin der Straßendirnen, und die Straße war die Verbindung zu Sydneys Unterwelt, einem kriminellen Netzwerk, das seine fähigsten Leute aus den berüchtigtsten Londoner Gefängnissen importiert hatte. Irgendetwas war da im Busch.
8
P AISLEY
Das Holz der Treppe knarrte. Rhia legte lautlos ihren Stift zur Seite und wagte kaum zu atmen. Er rollte über den Tisch und dann wieder zurück zu ihr, wo er neben ihren Fingerspitzen liegen blieb. Der silberne Füllhalter war ein Geschenk von Mamo, aber Rhia hatte bis jetzt nicht gewagt, ihn zu benutzen, aus Angst, etwas Bedeutungsloses niederzuschreiben. Er war zierlich und hübsch, und das eingravierte Muster aus verschlungenen Knoten leuchtete wie eine Buchmalerei, viel heller, als es im Kerzenlicht normal gewesen wäre.
Die Treppe knarrte wieder. Mab, die Katze, war durchaus so fett, dass sie die Stufen zum Ächzen bringen konnte. Aber Mab bewegte sich nicht von ihrem Platz am Herd weg, außer jemand gab Sahne in ihr Schälchen. Also konnte es eigentlich nur wieder Mamo sein, die durchs Haus wandelte, ein Geist zu ferner Stunde. Die ferne Stunde . Seltsam, dass sich Rhia plötzlich wieder daran erinnerte. Das war vor langer Zeit ihr geheimer Name für die Zeitspanne gewesen, in der der ganze Haushalt in tiefem Schlaf lag. Mamo hatte ihr zum Einschlafen Geschichten erzählt, die sie jedoch stets nicht hatten einschlafen lassen. Mamo hatte ihr auch einen kleinen Spruch beigebracht, mit dem man Geister abwehren konnte, doch er fiel Rhia gerade nicht mehr ein.
Die Schatten stoben auseinander, als sich die Tür knarrend öffnete. Es war Mamo. Ihre spindeldürren Beine wurden wie früher von den viel zu großen, langen Unterhosen ihres Ehemanns verhüllt. Sie hatte sie seit seinem Tod bis zu ihrem eigenen getragen. Und sie hatte sogar darauf bestanden, darin begraben zu werden. Die Unterkleider eines toten Mannes würden so manche Leute sicherlich für eine unkonventionelle Nachtwäsche halten, doch in Mamos Augen war das Ganze absolut vernünftig. Sie stammte ursprünglich aus den Hügeln, und die kalten Nebel am Meer krochen ihr in die Knochen. Ihr Mann dagegen hatte immer am Meer gelebt. Er war einer der »schwarzen Iren« und seine Vorfahren stammten angeblich aus den Wracks der Spanischen Armada. Aber Mamo stellte sich lieber vor, dass er einer der legendären Selkies war, die als Seehunde aus dem Meer kamen und sich in Männer verwandelten. Ihr silberner Zopf hing ihr über die knochigen Schultern und wurde zum Teil von ihrem alten Paisleyschal bedeckt. Wie immer war sie barfuß.
Ihre Großmutter blieb eine Minute lang stehen und betrachtete Rhias Zeichenheft, das offen auf dem Tisch lag. »Erwartest du Besuch?« Mamo konnte nicht einfach sagen »bist du am Zeichnen?«. Kunst bedeutete bei ihr ein Besuch der Göttin Cerridwen , der Muse aller Barden.
»Nein, heute Abend nicht. Ich wollte schreiben … mich von Thomas verabschieden …«
Mamo sah auf die Seite. »Da hast du aber nicht viel zu sagen.« Sie konnte zwar nicht lesen, aber jeder konnte sehen, dass das Pergament noch völlig unbeschrieben war. »Sei kein Feigling, Rhiannon. Sag ihm persönlich auf Wiedersehen.«
Rhia seufzte. Sie wusste, dass ihre Großmutter recht hatte.
Mamo sah immer noch auf die Seite hinunter. Ihr liebes kleines Walnussgesicht war glatter, als wäre sie im Tod jünger geworden. Mit einem gekrümmten Finger fuhr sie das verschlungene
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