Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
anklagend, doch soweit sie erkennen konnte, benahmen sich die Briten tatsächlich wie Piraten. Lady Basset erlitt einen plötzlichen Hustenanfall, und Rhia glaubte, zwischen Hustern die Worte »Unverschämtheit« und »Dreistigkeit« zu vernehmen.
»Außerdem ist es«, merkte Antonia an, »eine Frage des Gewissens, und dies ist bei Politikern selten sonderlich ausgeprägt.« Die beiden Frauen wechselten einen Blick der Verbundenheit. Wenn Antonia nicht schlechter von ihr dachte, weil sie ihre Meinung laut äußerte, dann war Rhia auch egal, was die anderen von ihr hielten – Laurence eingeschlossen, der bereits zweimal nervös sein Glas geleert hatte, seit diese Diskussion begonnen hatte.
Mr Montgomery betrachtete sie, als versuche er eine Entscheidung zu treffen. Vielleicht machte er sich gedanklich eine Notiz, sie zu keiner weiteren Dinnerparty mehr einzuladen. Am Tisch herrschte Stille, während kalter Zitronenpudding und Pflaumentarte serviert wurden. Da war es fast eine Erleichterung, sich anschließend nur mit den anderen Frauen in den Salon zurückziehen zu können. Lady Basset ignorierte sie nun angestrengt, was Rhia nur recht war. Sie genoss es, keine Reue zu verspüren.
Dort tranken sie übermäßig gesüßten schwarzen Kaffee und Likör, während Isabella ohne Unterlass von der königlichen Hochzeit plapperte und wie klein doch Queen Victoria auf den Zeichnungen neben Prince Albert wirkte. Und sei es nicht erstaunlich, dass jemand so Kleines, die sogar noch jünger als sie selbst war, die Königin eines Reiches sein sollte? Alle nickten, doch niemand schien wirklich zuzuhören. Mrs Montgomery war nun völlig berauscht und saß mit entrücktem Blick und eingefrorenem Lächeln da. Offensichtlich war sie an diesen Zustand gewöhnt, denn das Einzige, was sie verriet, war ein gelegentliches Schwanken des Oberkörpers. Lady Basset wirkte gelangweilt und verärgert, und Antonia war merklich erschöpft. Rhia hoffte, dass sie bald würde nach Hause gehen wollen. Ihre Blicke trafen sich. Antonia beugte sich verschwörerisch vor.
»Mr Montgomery würde gerne Ihre Mappe sehen.«
Rhia war plötzlich hellwach. »Meine Mappe? Braucht er einen Zeichner? Aber woher weiß er …?« Sie verstummte, kurz verwirrt, bis ihr die Antwort dämmerte. »Sie haben es ihm gesagt!«
»Er hat mir vor einiger Zeit erzählt, er sei auf der Suche nach einem Textilgestalter.«
Rhia war sprachlos. Wie war es möglich, dass ein Stoffhändler aus der Regent Street einen Gestalter ohne Erfahrung überhaupt in Erwägung zog, ganz zu schweigen von der Vorstellung, eine Frau einzustellen? Antonia wirkte sehr zufrieden mit sich.
»Mr Montgomery ist auf der Suche nach etwas Besonderem, etwas das nicht aus Paris importiert wurde. Sie dürfen nicht vergessen, Rhia, dass einige der exquisitesten und berühmtesten Seidenmuster von Anna Maria Garthwaite stammen.«
»Das ist richtig …« Sie hatte von dieser bekannten Gestalterin gehört, die zu den Lieblingen der Regenten des vergangenen Jahrhunderts gehörte.
»Wären Sie interessiert?«
»Aber ja ! Wobei ich mich wohl kaum als professionell bezeichnen kann …«
»Doch, das können Sie. Vielleicht nicht gemessen an der Erfahrung, aber Erfahrung ist nicht alles, und ich habe Ihre Arbeiten gesehen. Mich freut es immer ungemein, einer Frau zu begegnen, die ihr Talent und ihren Verstand gebraucht. Ich bin mir sicher, Gott hatte nicht im Sinn, dass künstlerische Erfüllung allein der Befriedigung von Männern vorbehalten sein sollte.«
Rhia war völlig überwältigt. Der Abend war eine Strapaze gewesen, und aus irgendwelchen Gründen war sie nun den Tränen nahe. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte, was ich von London erwarten sollte, und jetzt das …«
»Erwarten Sie alles. London bietet alles oder nichts, einem jeden Schicksal entsprechend.«
Ryan hatte etwas ganz Ähnliches gesagt. Als ob die Hoffnungen und Wünsche so vieler Menschen lediglich Kniffe in einem Kartenspiel waren. »Dann glauben Sie an Schicksal?«
Mrs Blake seufzte. »Bis zu einem gewissen Punkt. Zwischen dem Einsatz seiner Kräfte und der Akzeptanz dessen, was einem geschenkt – oder genommen – wird, muss man das Gleichgewicht wahren.«
Isabella versuchte schmollend, ihrer Unterhaltung mit gerunzelter Stirn zu folgen. »Sie sind beide viel zu ernst. Miss Mahoney, Sie müssen uns unbedingt bald wieder besuchen und Mamas hübsche Sammlung anschauen. Lauter Stoffe, die mein Papa ihr aus dem Orient mitbringt. Sie
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