Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
stellt Spitze her. Ich bleibe immer stehen und sehe ihr zu, weil ihre faltigen Hände sich so schnell bewegen, dass man kaum erkennen kann, wie sie den Faden um die Spule wickelt. Ihre Spitze wirkt so zart und seidig wie ein Spinnennetz.
Nicht weit von der Threadneedle Street entfernt nähen viele geschickte Finger Krägen und Revers, Taschen und Ärmel, Säume, Knopflöcher und Handschuhe. Sie drapieren Westen und Hemden in ihre Fenster oder auf Kleiderpuppen vor der Tür. Der Lebensunterhalt von so vielen hängt von der Nachfrage eines Schneiders ab. Ich schätze, es ist sinnvoll, dass ein ganzes Stadtviertel einem einzigen Gewerbe gewidmet ist. Ich erinnere mich noch an den Vortrag in der Dublin Linen Hall über den zukünftigen Handel mit vorgefertigten Mänteln und Hemden. Kleider werden vermutlich bald folgen, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie irgendjemand etwas Passendes finden soll, ohne vorher dafür vermessen worden zu sein.
Der Stoffhändler Mr Montgomery hat gebeten, meine Entwürfe sehen zu dürfen, und ich habe Tage damit verbracht, mir zu überlegen, welche Zeichnungen und Bilder ich ihm zeigen soll. Ich habe auch einige neue Entwürfe erstellt. Die Stadt besitzt unerwartete Freuden. Im Garten hinterm Haus klammert sich ein Büschel Efeu wie gemeißelt an das blasse Mauerwerk. Auch die schmiedeeisernen Silhouetten vor angestrichenem Gemäuer haben es mir angetan. Auf dem Markt in der Pettycoat Lane vergießen überquellende Kübel mit Lavendel, Geranien und Winterrosen ihre Blütenblätter wie leuchtende Tränen auf die dunklen Pflastersteine.
Ich kann nicht so tun, als hätte ich keine Sehnsucht nach Eponas Hufen auf dem Schiefergestein oder selbst nach Deinen Geschichten. Manchmal möchte ich unbedingt heimkommen, aber ich könnte jetzt nicht gehen, nicht ohne zu wissen, was Ryan bewogen hat, sich das Leben zu nehmen. Es bindet mich an London. Ich habe seit der Trauerfeier nichts von dem Journalisten Mr Dillon gehört, aber Laurence versichert mir, dass er es nicht vergessen hat. Ich nehme an, er hat viel zu tun, und ich habe immer noch vor, selbst einige Erkundigungen anzustellen. Ich war in letzter Zeit nur so müde.
Es gibt noch etwas anderes, das ich von London will, obwohl ich mir dessen erst bewusst geworden bin, seit ich über die greifbare Möglichkeit einer Arbeit als Textilgestalterin nachgedacht habe. Es wird Dich zum Lächeln bringen, denn Du hast mich schließlich nach der Frau benannt, die Frauen zur Selbständigkeit ermutigt. Wenn ich nach Irland zurückkehre, möchte ich einen Beruf haben, und damit meine ich nicht, Gouvernante zu sein.
20
S EIDE
Gedruckt war Mr Dillon ebenso unhöflich, aber direkt wie in Person. Er nahm sich Freiheiten heraus, die ihm in der City sicher Feinde machten. Rhia hob den Blick von der Zeitung, um über seine Worte nachzudenken. Tausende Webstühle standen still oder waren gar nicht mehr in Benutzung, weil die Freihandelsgesetze bereits unbegrenzte Seidenimporte aus dem Orient erlaubten und nun französische Produzenten ebenfalls ein Stück vom englischen Markt wollten. Ein solches Abkommen würde das Ende der Londoner Seidenproduktion bedeuten und damit auch einer weiteren großen Gruppe von Webern. Genau dasselbe war in Irland geschehen. Der heutige Bericht besaß einen besonderen Stachel:
Sollte das beschämende Verhalten der British Navy im Pearl River irgendetwas Gutes gebracht haben, dann dass chinesische Seide in London nicht mehr so leicht zu bekommen ist. Die unterdrückten Weber von Spitalfields haben dadurch vielleicht Gelegenheit, ihre zerbrochenen Rahmen zu reparieren und ihre Kinder zu ernähren. Es ist offensichtlich, dass der Hunger von Industriellen nach Kapital und Imperien die Wirtschaft dieses Landes vergiften wird, genauso wie sie die Themse vergiftet und die Londoner Fischerei zerstört haben. Vielleicht sollten wir einen Moment innehalten und uns bewusst machen, dass viele der Piraten auf dem Fluss einst Fischer waren und viele der Sträflinge in Australien einst Weber.
Rhia fragte sich, ob Mr Dillon wohl irgendwelche persönlichen Gründe hatte, sich an den Ungerechtigkeiten des Handelsgewerbes zu stören, oder ob er einfach generell verdrießlich war. Als sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, fiel ihr wieder ein, dass sie ihre Mappe oben hatte liegen lassen.
Laurence kam gerade die Treppe herunter. Fast sah es aus, als hätte er in den Kleidern vom vergangenen Tag geschlafen, und seine Haare standen ihm rechtschaffen
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