Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
ein Mistelzweig, und hinter der Bar thronte ein riesiger Weihnachtskuchen in einem Bett aus Stechpalmenzweigen. Das lodernde Feuer warf flackernde Schatten, aber die Atmosphäre im Raum war laut und fröhlich. Nach dem Lärmpegel zu urteilen, handelte es sich beim Red Lion um ein Wirtshaus für Arbeiter. Jetzt hatte sie schon zum zweiten Mal allein eine Taverne betreten. Ihr Vater würde verzweifeln, wenn er das wüsste.
Sid winkte Rhia von einem Winkel beim Feuer zu. Die Art, wie er seine Kappe trug, zusammen mit dem Blitzen in seinen Augen, hatte Rhia zu dem Schluss kommen lassen, dass es sich bei ihm um eine Art Freigeist handelte. Trotz seiner schlechten Zähne besaß er ein freundliches Lächeln. »So setzen Sie sich doch, Miss Mahoney, damit ich Ihnen etwas zu trinken holen kann. Möchten Sie einen Sherry oder einen Punsch?«
»Ich hätte lieber ein Glas Stout, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Etwas ausmachen? Aber wieso denn, es freut mich, wenn eine Lady etwas Anständiges trinkt.«
Als er sie allein gelassen hatte, kicherte Grace nervös. »Achten Sie nicht zu sehr auf Sid, er ist ein bisschen frech. Aber er hat ein gutes Herz.«
»Das kann ich sehen.« Die Stimmung des Mädchens schien sich durch die leeren Gläser auf dem Tisch deutlich gehoben zu haben, doch sie beäugte Rhia immer noch misstrauisch.
»Ich hoffe, Sie halten mich nicht für zu forsch, aber glauben Sie nicht … ist es nicht unwahrscheinlich, dass Mr Montgomery jemanden … jemanden wie Sie beschäftigen würde?«
»Jemanden wie mich?« Rhia fragte sich, wo diese Unterhaltung wohl hinführen würde.
»Ich meine, dass eine Frau in die Geschäftswelt der Männer … also, wie wollen Sie denn heiraten, wenn Sie ein Gewerbe ausüben?«
»Vielleicht werde ich das nicht. Das würde mir nichts ausmachen.« Rhia zuckte so gleichgültig wie nur möglich mit den Schultern. »Darüber mache ich mir keine Gedanken.« Das stimmte nur zum Teil, da sie zumindest in letzter Zeit nicht darüber nachgedacht hatte. Besser, sie gewöhnte sich an die Vorstellung, niemals zu der Sorte Frau zu gehören, die den Männern gefiel. Sie war ja ohnehin nicht davon überzeugt, dass die Ehe für Frauen irgendwie von Vorteil war.
»Aber Sie können doch keine Familie haben, ohne verheiratet zu sein.«
»Rein körperlich ist das durchaus möglich.« Miss Elliot errötete. Rhia war ja keine Expertin in Sachen befleckte Empfängnis. Thomas und sie hatten als Kinder darüber gesprochen und die wenigen Puzzlestücke, die sie jeweils wussten oder vermuteten, zusammengesetzt. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass die ganze Geschichte unmöglich war, und an jenem Tag im Wald war es ihnen nicht gelungen, dies zu beweisen oder zu widerlegen. Rhia konnte sich die Art von Liebe kaum vorstellen, die zu einem Akt von solch folgenschwerer Intimität führen könnte. Letztlich ging es natürlich immer wieder um die Liebe, das größte Problem von allen.
Ehe Rhia etwas einfiel, womit sie Miss Elliots hochrote Wangen hätte beruhigen können, kam Sid mit einem Glas Stout und einem Stück Weihnachtskuchen für jeden von ihnen zurück.
»Auf ein frohes Weihnachtsfest«, erklärte er und hob sein Glas.
»Zum Wohl!«, riefen sie im Chor.
»Und es wird das erste Weihnachten seit langem sein, das ich nicht in der Change Alley verbringe.«
»Wo ist die Change Alley?«, wollte Rhia wissen.
»Nun, Miss Mahoney, die Wahrheit ist: Der eigentliche Ort existiert gar nicht, zumindest nicht mehr. Vor fünfzig Jahren gab es ein Feuer, das die Alley bezwungen hat, aber mein Vater erinnert sich immer noch daran aus den Zeiten, als er noch ein Junge war. Mein Großvater war ein Makler, wie ich. Jetzt läuft das alles in der Königlichen Börse ab.«
»Was genau läuft da? Und was macht ein Makler?«
»Sie stellen eine Menge Fragen für eine Lady.« Sid grinste, und Rhia merkte, dass es ihm gefiel, der Experte am Tisch zu sein. »Ein Makler handelt an der Börse, und Spekulanten wie ich beraten die Händler und Geldmänner und die Bankiers, die vor lauter Silber nicht mehr wissen, was sie damit tun sollen. Makler wissen, was auf dem Markt läuft – welche Aktien oder Wertpapiere man kaufen sollte und was sich gerade mit Profit gut verkaufen lässt. Sie müssten doch ein bisschen etwas über den Markt wissen, wenn Sie aus der Leinenbranche kommen, Miss Mahoney.«
»So gut wie nichts. Ich weiß, dass der Preis für irisches Leinen tief gefallen ist.«
»Weil das englische Leinen
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