Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Schriftzeichen auf der Rückseite sehen konnte. »Haben Sie eine Ahnung, was die Zahlen oder das Symbol da bedeuten könnten?«
Sid nahm die Karte und kniff die Augen zusammen. »Keinen blassen Schimmer, was dieses Gekritzel da ist.« Er tippte mit dem Finger auf das Schriftzeichen. »Vermutlich Chinesisch. Aber die Zahlen sehen für mich nach Koordinaten aus, also einem genauen Punkt draußen in der Mitte des Ozeans, doch ich bin kein Matrose, Miss Mahoney. Ich könnte Ihnen nicht sagen, welches Fleckchen Ozean das ist. Sieht dennoch aus, als hätte es eine Frau geschrieben, so sauber, wie die Handschrift ist.«
Rhia schob die Karte zurück in ihre Handtasche. Der Gedanke, dass es sich um eine Frauenhand handeln könnte, war ihr noch gar nicht gekommen. Sie wusste nur, dass es nicht die Schrift ihres Onkels war. Vielleicht hatte er einen Schatz gehabt? Aber weshalb sollte jemand, obendrein eine Frau, die Koordinaten eines Schiffes und ein chinesisches Schriftzeichen auf eine Visitenkarte schreiben?
Die Schornsteine der roten Backsteingebäude der Mühlen erhoben sich über die vernachlässigten Mietshäuser entlang der Threadneedle Street. Sie erinnerten Rhia an die Zigarren der Herren im Jerusalem Coffee House. In kürzester Zeit waren sie an Cheapside entlanggelaufen, und Sid hatte ihr die Mercer’s Hall an der Ironmonger’s Lane gezeigt, wo sich all die »schickeren« Tuchhändler trafen. Mr Montgomery war, erzählte er, als »König der Tuchhändler« bekannt. Die City von London war schon lange von Financiers und Tuchhändlern besiedelt – eine Partnerschaft, die zu den Handelsbanken geführt hatte. »Wenn nur Gracey und ich zusammenlegen könnten, was wir übers Bankwesen und Stoffe wissen, und dasselbe tun«, scherzte er.
Die Strecke zur Regent Street schien richtig kurz, wenn man jemanden zum Unterhalten hatte. Als Grace Sid durch die Tür kommen sah, errötete sie vor Freude. Dann entdeckte sie Rhia. Und sofort verdunkelte sich ihre Miene. Wie immer schien Sid von den wechselnden Stimmungen seiner Verlobten nichts zu bemerken. Und vielleicht war das auch gut so. Rhia blieb kurz im Türrahmen stehen, ehe sie sich dagegen entschied, den Laden zu betreten. Sie winkte Grace zu und eilte davon, als hätte sie etwas Dringendes zu erledigen.
Am Fenster eines Tuchhändlers bei Spitalfields hielt sie inne und stellte sich ein neues Ausgehkleid aus einer Bahn indischgrünem Kaschmir vor. Natürlich konnte sie es sich nicht leisten, den Stoff zu kaufen, auch wenn sie es selbst nähen würde. Denn falls sie nicht bald eine Anstellung fand, musste sie den Rest ihres Geldes für die Fahrkarte nach Hause ausgeben, und ihr Wunsch, triumphierend nach Irland zurückzukehren, würde ein Traum bleiben.
Als sie die kahle Straße entlang zurückging, wo sie die Weber durchs Fenster beobachtet hatte, schämte sie sich für ihr Verlangen nach Kaschmir. Zweifellos hausten in diesen schäbigen Hütten Familien von Heimarbeitern, die rund um die Uhr nähten, spannen oder webten, um gerade genug für ihr Brot und ihren Tee zu verdienen. Ihr Handwerk war das Herz von Londons Wohlstand – der Großteil der Fabriken in der Hauptstadt war mit der Herstellung von Stoff beschäftigt. Der Tuchfabrikbesitzer wohnte vermutlich in Hampstead oder Ealing und aß gerade in seinem Club Perlhuhn mit Rotwein, genau wie Rhia neulich bei Montgomery. Sie schämte sich fast dafür, dass sie, als Freundin der Kellys, hatte vergessen können, dass der Stoff mit der kunstvollsten Oberfläche auf der Unterseite oft am rausten war.
24
O RGANZA
Von Allerheiligen an legten die Londoner eine Fröhlichkeit an den Tag, die nur von einem Komödientheater oder einer Hinrichtung am Galgen übertroffen werden konnte. Antonia selbst fühlte sich unbeschwert, als sie neben Rhia und Juliette her eilte, obwohl sie das Weihnachtsfest nicht länger zelebrierte. Feiern und Rituale waren Hindernisse zwischen den Gläubigen und dem Göttlichen. Und doch, wie schön, dass es am Heiligabend schneite. Die weichen Flocken ließen sich auf Juliettes schwarzem Strickschal und Rhias roter Kapuze nieder. Was für eine Schande, dass fotogene Zeichnungen der Reglosigkeit bedurften, denn die Regent Street wirkte nicht oft so wie an diesem Tag.
Rhia hatte eigentlich nicht mit zum Geschäft kommen wollen, aber Antonia hatte sie gedrängt, mutig zu sein. Sie hatte darauf verwiesen, dass Mr Montgomery vielleicht doch Interesse an ihren Entwürfen haben könnte und dass
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