Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
dann noch vereinnahmen? Rhia versuchte, sich Spitalfields vor den Fabriken auszumalen, als die französischen Protestanten den Londoner Seidenhandel bestimmt hatten. Es war schwer vorstellbar. Sie hatte gelesen, dass die Hugenotten eine Maulbeerbaumplantage angepflanzt hatten, weil das das Einzige war, was diese anspruchsvollen Seidenraupen fraßen, auch wenn jetzt in Spitalfields kaum noch ein Baum zu sehen war. Weder die Maulbeerpflanzen noch die Tiere gediehen in diesem Klima. Rhia konnte das den Seidenraupen gut nachfühlen. Die Feuchtigkeit war bis zu ihren Zehen vorgedrungen, sogar durch ihre Schnürstiefel und Wollsocken hindurch.
Als sie eine Straßenkreuzung erreichte, war sie nur noch einen Schritt oder zwei von der Lombard Street entfernt und freute sich auf einen starken Kaffee. Gemessen an dem, was sie durch das beschlagene Glas vom Inneren erkennen konnte, wirkte das Jerusalem Coffee House recht betriebsam, aber sie war auf die Atmosphäre, die ihr beim Eintreten entgegenschlug, trotzdem nicht vorbereitet. Dies war ganz anders als das, was sie erwartet hatte. Zigarrenrauch und Männergeruch hingen schwer in der Luft. Das Gewirr lauter Stimmen erinnerte sie an den Pferdemarkt in Dublin. Es gab kaum genug Platz zum Stehen, vom Sitzen ganz zu schweigen und, wie ihr plötzlich klarwurde, zeigte ihr Eintreten langsam Wirkung. Es gab im Raum sonst keine andere Frau. Das Jerusalem Coffee House war ein Treffpunkt, kein warmer, trockener Ort, an dem man in Ruhe ein Getränk zu sich nehmen konnte.
Eine ganze Wand war mit hölzernen Ablagekästen ausgestattet, wie man sie sonst bei einem Drucker oder Papierwarenhändler sah, und mit Stapeln von Bestandsbüchern bedeckt. Auf einem langen, schmalen Tisch darunter lagen Zeitungen, Pfeifenteller, Kaffeebecher aus Blech und eine Reihe Notizbücher und Bleistifte. An ein Korkbrett ganz in der Nähe waren mehrere Blätter kariertes Papier geheftet. Rhia war zu weit weg, um erkennen zu können, was für Einträge in die Tabellen gemacht worden waren. Aber sie vermutete, dass es irgendwie mit Verschiffungen zu tun hatte, denn eine große Anzahl der Männer im Raum besaß das salzverkrustete Aussehen von Handelskapitänen. Rhia hatte genug gesehen, um zu verstehen, dass dies nicht der richtige Ort für entspannten Kaffeegenuss war. Als sie sich gerade umdrehen wollte, um zu gehen, vernahm sie eine bekannte Stimme.
»Dachte mir doch, dass Sie das sind, Miss Mahoney!« Sid grinste sie ob ihres überraschten Gesichtsaudrucks breit an. »Wie ich sehe, interessieren Sie sich seit neuestem für Börsengeschäfte!«
»Nicht im Geringsten. Mein einziges Interesse galt einem Glas Kaffee.«
»Kaffee! Da schauen Sie besser woanders. Sonst lenken Sie diese Gentlemen hier noch von ihren Geschäften ab.« Sid schien es enorm zu amüsieren, dass Rhia wegen eines Kaffees in ein Kaffeehaus gekommen war.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Miss Mahoney. Ich bin hier so gut wie fertig, und dann will ich Gracey besuchen. Warum begleiten Sie mich nicht?« Es war ein gutes Stück von Cornhill in die Regent Street, aber Rhia nickte. Warum nicht? Sie hatte nichts Besseres zu tun. Sie brachen auf, und Rhia war erleichtert, wieder an der feuchten Luft zu sein.
»Ist es da drinnen immer so voll?«, erkundigte sie sich, als sie durch Cornhill zurückgingen. Sid schüttelte den Kopf.
»Der Preis von Tee und chinesischer Seide ist auf einem Höchststand – was bedeutet, dass beide Güter rar sind und deshalb über dem üblichen Marktpreis liegen. Es laufen eine Menge kleinere Geschäfte ab, um die alltäglichen Bedarfsgüter zu sichern.«
»Alltägliche Bedarfsgüter?«
»Das sind Bestände, für die es immer einen Markt gibt, egal wie teuer.«
»Dann ist es wie beim Schach – etwas von geringem Wert wird geopfert, um etwas Wertvolles zu sichern?«
»Ich habe nie Schach gespielt. Ist mir zu hoch, aber das trifft es, ja.«
»Und diese ganzen Bücher und Papierumschläge in den Regalboxen?«
»Akten. Schiffsdokumente von Bombay, Kalkutta, Kanton, Sydney, Hobart Town … und die ganzen Zwischenstationen – Rio, St. Helena und so weiter. Diese Akten enthalten die Ankunfts- und Ablegedaten jedes Schiffes, und was es geladen hat, plus die aktuellen Preise. Es ist mein Job zu wissen, was darin steht. Hält mich in Form!«
»Das glaube ich gerne.« Rhia fiel die Visitenkarte wieder ein. »Ich habe da noch eine Frage.« Sie holte die Karte aus ihrer Handtasche und drehte sie um, so dass Sid die
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