Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
zu einem Vorzimmer, das einst ein Ankleideraum gewesen sein musste. Es enthielt lediglich große Kirschholztruhen mit Schnitzereien auf dem Deckel. Isabella öffnete eine der Truhen, dann noch eine, und das kleine dunkle Zimmer war plötzlich völlig verändert. Prunella Montgomery hatte recht: Das hier waren echte Schätze. Isabella zog ein Seidenstück nach dem anderen heraus, mit Applikationen in feinster Näharbeit bestickt oder von winzigen Perlen bedeckt. Manche wurden vom Gewicht der Edelsteine förmlich heruntergezogen. Bei den meisten war das gewebte Material fast vollkommen von Ornamenten bedeckt. Stoffe verströmten den Geruch ferner Länder, den Rhia genauso als sinnlich empfand wie die Textilien selbst. Sie bewunderte jedes neue Stück ausgiebig, bis ihr ein wenig schwindelig wurde. Bald konnte sie nichts mehr aufnehmen. Einer dieser Stoffe allein hätte sie schon sprachlos gemacht, aber ein ganzes Zimmer davon war schlicht überwältigend. Sie wollte sich den Wert all dessen gar nicht vorstellen. Isabella hatte ihr Staunen genossen, doch plötzlich war sie darauf erpicht, zu den Gästen zurückzukehren, ehe man sie vermisste.
Rhia sah sich ein letztes Mal um. Die Wandbehänge waren ihr bisher noch gar nicht aufgefallen, und vor allem einer von ihnen glitzerte im Kerzenlicht wie eine Galaxis. Es handelte sich um eine Patchwork-Arbeit aus meerfarbenen Seiden, die mit Saphiren, Smaragden und Peridots bestickt war. Der Stoff hatte eine seltsam beunruhigende Wirkung auf sie und löste dasselbe unheimliche Gefühl aus wie die Bäume im Salon der Cloak Lane. Sie wollte nun das Zimmer ebenso rasch verlassen wie Isabella.
Auf dem Treppenabsatz schob sich ein Dienstmädchen an ihnen vorbei, und Isabella beäugte sie misstrauisch. Sie flüsterte Rhia zu: »Das ist Hatty, die Petze. Wir gehen besser die Haupttreppe hinunter, denn wenn sie uns auf der Dienstbotentreppe sieht, weiß sie, dass ich etwas Ungehorsames tue.«
Rhia hatte noch nie einen Haushalt mit so vielen Angestellten erlebt. Überall waren Mägde, zusätzlich zu einem Butler, einem Verwalter und einem Hausdiener, und wer wusste, wie viele noch in der Küche und den Ställen arbeiteten. Es schüchterte sie ein wenig ein. Dieser Effekt war zweifellos beabsichtigt.
Auf halber Höhe der Treppe konnten sie die Eingangshalle unten überblicken und von dort aus auch gesehen werden. Mr Montgomery stand genau in der Mitte und wirkte in Jagdrot und Reitstiefeln höchst beeindruckend. Er beobachtete ihr Kommen, während er sich mit Isaac Fisher und einem wohlgenährten, schon etwas ergrauten Herrn unterhielt. Isabella fasste nach Rhias Hand. »Oje, sie sind früher fertig geworden, als ich dachte. Wir hätten doch die andere Treppe nehmen sollen.« Sie seufzte ergeben. »Nun ja.« Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Der Herr da bei meinem Vater ist mein zukünftiger Bräutigam, Miss Mahoney. Ist er nicht alt ?« Der Mann war nicht unbedingt alt, aber doch mühelos doppelt so alt wie Isabella.
Mr Montgomery lächelte, als sie am Fuße der Treppe ankamen, doch sein Mund war schmal vor Missbilligung und der Ärger seinem Tonfall deutlich anzuhören.
»Ich habe dich überall gesucht, Isabella.«
»Ich habe Miss Mahoney Mamas Sammlung gezeigt.«
Der Herr neben ihrem Vater strahlte. Er hatte ein rundes, freundliches Gesicht, wirkte aber aus der Nähe auch nicht einnehmender. Rhia verspürte einen Stich des Mitleids, als er Isabella seinen Arm bot. Sie schlenderten davon, wobei er aussah, als könne er sein Glück kaum fassen, ein solch hübsches Accessoire erstanden zu haben.
Mr Montgomery lächelte Rhia an, und seine schlechte Laune war rasch vergessen. Hatty, die Petze, tauchte mit einem Tablett langstieliger Gläser auf, in denen eine rosafarbene Flüssigkeit perlte. Mr Montgomery nahm ein Glas und reichte es Rhia.
»Gefällt Ihnen das Fest, Miss Mahoney?«
»Ausgesprochen gut!«, log sie. Sie war unglaublich durstig und leerte die Hälfte des Glases, ehe sie begriff, dass der Inhalt alkoholisch war. Sie spürte Isaacs Blick, der sich missbilligend anfühlte. Er hielt sich höflich im Hintergrund, so dass er mithören konnte, es aber nicht auffiel.
»Wunderbar«, erwiderte Mr Montgomery. »Mir gefallen Ihre neuen Entwürfe – habe ich das schon gesagt?« Ehe sie verneinen konnte, fuhr er fort: »Wir müssen bald einen drucken. Sie sind sehr vielversprechend.«
»Das freut mich zu hören«, entgegnete Rhia. »Ich hatte schon befürchtet, dass
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