Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
versehen.
Rhia stieg aus und erklomm die beeindruckenden Stufen so gelassen, wie sie nur konnte. Sie spürte die Blicke der Blassen und Dünnen auf sich und sah sich mit deren Augen: den Teint einer Bauersfrau, irischer Umhang (ohne Pelzbesatz), keine Löckchen. Sie würde einen Schluck Tee und einen Bissen Kuchen zu sich nehmen, dann Kopfschmerzen vortäuschen und sich verabschieden.
Das Gesellschaftszimmer war ein weiteres Durcheinander aus Krinolinen und Isabella nirgends zu sehen. Prunella Montgomery lächelte vage in ihre Richtung und klopfte dann neben sich auf den Diwan, auf dem sie saß. Rhia ließ sich neben ihr nieder, und Prunella bot ihr ein Glas Sherry aus dem Dekanter an, der neben ihr stand. Vermutlich ihr persönlicher Vorrat. Rhia nahm dankend an. Sherry schien ihr plötzlich eine viel bessere Idee als Tee zu sein.
»Gefällt Ihnen das Fest, meine Liebe?«, erkundigte sich Prunella. Bevor sie »meine Liebe« sagte, zögerte sie kurz, so als ob sie Rhias Namen vergessen hätte. Rhia bejahte höflich und fügte dann hinzu, dass es ihr auch im Geschäft gut gefiel. Mrs Montgomery wirkte einen Augenblick lang verwirrt, nickte dann aber geistesabwesend. Rhia wurde klar, dass sie die Unterhaltung würde am Laufen halten müssen, also erzählte sie davon, wie gern sie sich im Lagerraum aufhielt, der, wie sie es nannte, einer Schatztruhe gleichkam.
Mrs Montgomery hob die Augenbrauen. Ihre hellblauen Augen hatten milchige Ringe um die Pupillen, und darunter verliefen tiefe blaue Schatten, die sich selbst unter noch so viel Puder nicht verstecken ließen. Die Überreste von Schönheit waren da, doch Prunella Montgomery kümmerte es offensichtlich nicht mehr. »Isabella muss Ihnen meine Sammlung oben zeigen, meine Liebe«, erklärte sie, »wenn Sie die Seide im Geschäft für Schätze halten.«
Unter diesen Umständen war das Sherryglas rasch geleert, und Mrs Montgomery schenkte Rhia und sich selbst nach. Ihre Hand zitterte, und die goldene Flüssigkeit tropfte beim Einschenken am äußeren Rand herunter.
Als Rhia das dritte Glas Sherry geleert hatte, sprach sie ganz offen über das Schicksal von Mahoney-Leinen, im sicheren Wissen, dass sie linkisch und primitiv wirkte, denn die Augenbrauen ihrer Gastgeberin schienen sich überhaupt nicht mehr zu senken. Irgendwann wurde Rhia klar, dass sie aufgemalt waren. Als Isabella schließlich auf der Bildfläche auftauchte, rief ihre Mutter sie herüber. »Du musst … deine Freundin mit nach oben nehmen und ihr die Sammlung zeigen, Isabella.«
»O ja! Die müssen Sie unbedingt sehen, Miss Mahoney.«
Mrs Montgomery packte Isabella am Handgelenk und zog sie dicht an sich heran. »Aber pass auf, dass dein Vater dich nicht sieht – du weißt, dass er es gar nicht mag, wenn du deine Gäste vernachlässigst.« Sie nahm einen Schlüssel aus ihrer Handtasche und drückte ihn Isabella in die Hand.
»Wir nehmen die Dienstbotentreppe«, versicherte Isabella ihrer Mutter, und sie lächelten sich verschwörerisch an.
Isabella hielt Rhias Hand fest und zog sie einen kurzen Flur entlang, der von der Einganshalle wegführte, in der sich noch mehr ringellockige Törtchen tummelten, deren Augen hinter ihren Seidenfächern blitzten.
Sie eilten eine schmale dunkle Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo Isabella einen Kerzenständer von einer Anrichte nahm und vor eine der Türen stellte, die vom Treppenabsatz wegführten, damit sie aufschließen konnte.
»Hier werden Mamas Stoffe gelagert«, erklärte Isabella flüsternd.
»Warum flüstern Sie? Dürfen Sie hier nicht hinein?«
»O doch, aber die Dienstboten nicht. Mama hängt sehr an ihrer Sammlung.« Isabella kicherte nervös.
»Wäre Ihr Vater wirklich böse, wenn er herausfände, dass Sie Ihre Gäste allein gelassen haben?«
»Wahrscheinlich, obwohl Mama gerne übertreibt, wenn es um ihn geht. Er will heute meine Heirat bekanntgeben, müssen Sie wissen …« Isabella verstummte und zuckte so sorglos mit den Schultern, wie sie nur konnte. »Wie Sie ja sagen, es wird meine Langeweile mindern. Außerdem werde ich davonlaufen, falls ich meinen Mann nicht mag, und mir eine Anstellung suchen, genau wie Sie!«
Rhia konnte sich nicht vorstellen, wie Isabella Montgomery auch nur eine Minute in einer Welt überleben wollte, die nicht mit Pelz gefüttert und in Tüll gewickelt war. Ihr war doch sicherlich klar, dass das Geld und der Einfluss ihres Vaters ihre komfortable Reise durchs Leben polsterten.
Isabella öffnete die Tür
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