Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
noch nicht vollendet. Das lag zum einen an der schier unendlichen Menge an Stoff und zum anderen an den regelmäßigen Unterbrechungen durch Grace, die es offensichtlich sehr genoss, Chefin zu sein. So fand sie endlose Hilfsarbeiten für Rhia, die ihr dies oder das bringen, oder auf den Laden aufpassen sollte, während Grace ihre Elf-Uhr-Pause oder eine Besorgung machte. Es war schon ärgerlich genug, eine Angestellte zu sein, ohne dass Grace ihre Position noch ausnutzte.
Rhia mochte jedoch das Lager. Den Anblick des Kaleidoskops aus Strukturen und Mustern wurde sie nie müde: glänzender schwarzer Satin neben goldenem Samt, pflaumenfarbener Brokat neben flaschengrünem Taft. Es erinnerte sie ein bisschen an das Verkaufszimmer am St. Stephen’s Green. An einem freundlichen Tag wie heute fiel das Licht durch das Fenster dahinter und ließ die Seide funkeln wie einen Juwelenschatz.
Das hintere Fenster ging zu einem kleinen, überwucherten Innenhof hinaus, und an der gegenüberliegenden Wand stand eine Kommode mit einem fleckigen Spiegel und einigen Schubladen. Diese füllte Rhia nach und nach mit Töpfen und Gläsern mit farbigem Puder und Zobelhaarpinseln von jeder Stärke. In der Mitte des Raumes befand sich ein langer Tisch auf zwei Böcken, der teilweise mit Stoffballen belegt war. Doch in einer Ecke lagen ihr rotes Buch und einige Stücke Malkarton, mit den samtigen Rosatönen und dem leuchtendem Rubinrot der Damaszenerrose betupft. Die Entwürfe waren während der Ladenöffnungszeiten ganz klar ihre zweitrangige Beschäftigung, aber Rhia war fest entschlossen, bald eine Kollektion beisammenzuhaben, die sie Mr Montgomery präsentieren konnte, und zwar eine, die es mit allem aus Paris aufnehmen konnte. Für gewöhnlich kam sie morgens besonders früh oder blieb abends so lange, dass sie ungestörte Zeit zum Arbeiten hatte. Heute jedoch würde sie bald aufbrechen.
Heute fand nämlich Isabella Montgomerys Geburtstagstee statt. Rhia freute sich nicht sonderlich darauf, und Grace war gar nicht eingeladen worden. Das Verhältnis zu Grace hatte sich so weiterentwickelt, wie es angefangen hatte, und nun kam zusätzlich zum Groll wegen Rhias lockerer Freundschaft mit Sid der Umstand, dass Rhia hier im Geschäft die Macht an sich riss. Isabellas Teegesellschaft war nur eine weitere Sache, die Grace ihr übelnehmen konnte. Rhia sah auf die alte Schiffsuhr über der Kommode. Es war fast Zeit zu gehen.
Während sie ihre Schürze aufband und im Spiegel ihr Haar richtete, dachte sie über die Warnung ihrer Mutter zum Thema Banken nach. Sie war bereits dazu übergegangen, ihre Guineen in einem Beutel ganz unten in ihrem Koffer aufzubewahren. Nach ihrer Unterhaltung mit Dillon im Red Lion hatte sie nicht vor, irgendjemandem ihr kostbares Silber anzuvertrauen. Ein eigenes Einkommen zu haben bereitete ihr unerwartete Freude. Plötzlich war alles möglich.
Mehr denn je war sie davon überzeugt, dass Ryans Tod mit Geld zu tun haben musste, ob er nun gewissenlos gewesen war oder nicht. Aber falls Ryan mit Opium gehandelt hatte, wie konnte er dann Geld verloren haben? Ihr Onkel war gewiss risikobereit gewesen, doch sie hätte ihn nie als unbesonnen bezeichnet. Zweifellos hatte er sich mit der Investition in dieses Gemeinschaftsunternehmen übernommen. Wahrscheinlich wusste Mr Dillon etwas darüber, da er über die meisten Dinge informiert zu sein schien. Rhia hatte ihn jedoch seit Weihnachten weder gesehen noch von ihm gehört. Er hatte keinen Anlass vorbeizukommen, außer um Laurence zu besuchen, und Laurence war vor über zwei Wochen nach New York gesegelt. Im Haus war es still ohne ihn, und wegen ihrer bevorstehenden Schiffsladung nach Indien war Antonia mehr beschäftigt denn je.
Grace polierte ihre Fingernägel und las in Sylvia’s Home Journal , als Rhia den Ladenraum durchquerte, was die einzige Möglichkeit darstellte, das Geschäft zu verlassen. Sie wechselten einen höflichen Abschiedsgruß. Es war nur noch eine Woche bis zum Ende des Monats, dann wäre Rhia allein. Sie besaß bereits ihren eigenen Schlüssel.
Der Landauer der Montgomerys mit Isabella darin fuhr unerwartet vor, als Rhia gerade nach draußen trat. Mit ihrer Pelzmütze und dem Zobelmantel, eine Pelzdecke über den Knien, wirkte Isabella wie die Parodie einer Schneekönigin. Sie war vor Aufregung ganz außer Atem, als Rhia an die Kutsche trat. »Hallo, Miss Mahoney, es scheint mir eine Ewigkeit her zu sein, seit wir uns gesehen habe, und ich bin heimlich
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