Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
Geschmack daran gefunden, Herrin über ihre eigenen Angelegenheiten zu sein, und das würde sie nicht so leicht wieder aufgeben. Welcher Mann wollte schon eine Frau, die ihn finanziell nicht brauchte?
Als Grace vom Lunch zurückkehrte, kaufte Rhia sich ein Stück Kuchen von einem der Karrenverkäufer, setzte sich mit einer Tasse Tee ins Lager und betrachtete wieder ihre Grüntöne. Keiner davon passte. Sie brauchte mehr Moosgrün, weniger Olive. Sie räumte die Sachen weg und überprüfte stattdessen die Sauberkeit der Regale. Es würde ein anstrengender Nachmittag werden, wenn sie Ordnung in den ganzen Samt bringen wollte.
Als sie aufstand, um anzufangen, ertönte ein lautes Klopfen an der Tür, und noch ehe sie etwas sagen konnte, betraten zwei Herren den Lagerraum. Sie trugen die eckigen schwarzen Hüte und dunklen schweren Uniformen der Metropolitan Police. Rhia war zu perplex, um ein Wort herauszubringen. Kurz darauf tauchte Grace hinter ihnen auf und sah aus, als hätte sie etwas gegessen, was ihr nicht bekommen war.
»Guten Tag, Miss«, grüßte der Ältere der beiden, der jünger war als Rhia selbst. »Mein Kollege und ich untersuchen den Diebstahl einer Menge von …«, an dieser Stelle zückte er einen braunen Notizblock aus seiner Innentasche, »… von einem Stück bestickter Seide aus der Montgomery-Residenz am Belgrave Square. Ich habe hier einen Durchsuchungsbefehl für diese Geschäftsräume nach der besagten Ware.«
Rhia war schockiert. Ihr erschien es irgendwie noch schlimmer, dass es einen Diebstahl bei den Montgomerys gegeben haben sollte, wo sie gerade erst dort gewesen war. Es war doch aber sicherlich unmöglich, dass sich etwas, das vom Belgrave Square gestohlen worden war, hier im Laden befand? Wollten sie damit etwa sagen, dass sie das Diebesgut versteckte?
»Gewiss, durchsuchen Sie den Raum, aber«, sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen, »tun Sie es bitte vorsichtig und ordentlich. Ich habe Wochen gebraucht, um Ordnung zu schaffen.« Der Ältere der beiden Beamten nickte und wies Grace an zu suchen. Grace war ganz offensichtlich entsetzlich unbehaglich zumute. Sie konnte Rhia nicht in die Augen sehen.
Grace räumte Rollen und gefaltete Stoffbündel aus jedem Fach. Die Schiffsuhr schien doppelt so laut zu ticken, um die Stille im Raum wettzumachen.
Die Stickerei fand sich in einem der oberen Regalfächer, die Grace nur erreichte, indem sie auf einen hölzernen Tritthocker stieg. Rhia erkannte sie sofort wieder. Es war der Wandbehang, der sie so beunruhigt hatte. Grace legte ihn auf den Tisch, wo das Licht der Lampe Meeresfarbtöne an die Wände warf, die funkelten wie Sonnenlicht auf dem Wasser.
Rhia war so überrascht, dass sie sich schwer auf einen Stuhl fallen ließ. Sie begriff nichts. Bis die beiden Polizisten vortraten und sich links und rechts von ihr hinstellten, war sie sich noch nicht einmal bewusst, dass man sie beschuldigen würde. Es war undenkbar.
»Rhia Mahoney, Sie sind von nun an eine Gefangene Ihrer Majestät der Königin Victoria, und werden in Newgate, im Gefängnis Ihrer Majestät, inhaftiert, bis Ihr Fall zur Anhörung kommen mag.«
32
M AISGELB
London verschwand. Vielleicht war es nie mehr als eine fotogene Zeichnung gewesen, der Geist von etwas Wirklichem. Wobei Rhia manchmal hören konnte, wie es heiter und pfeifend vorbeizog und sich der dunklen Unterwelt des Newgate-Gefängnisses gar nicht bewusst war.
Sie hatte fünf Nächte gezählt, doch sie würde bald den Überblick verlieren, wenn sie diesem Ort nicht demnächst entkam. Man hatte ihr keine Besucher genehmigt, und sie wusste nicht mehr als zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung. Die Nächte dauerten eine Ewigkeit, auf einer harten Matte in einer offenen Zelle, zwischen Frauen, die sich zankten und schnarchten und ihr Kleid begafften, als würden sie es ihr am liebsten vom Leibe stehlen, während sie schlief. Der helle maisgelbe Glanz der Corinna-Seide ließ sie wie Gold in einer Schüssel Erde herausleuchten.
Jemand hatte Rhia erklärt, dass man ihr keine Gefängnisuniform aushändigen würde, bis sie verurteilt war, aber denen war nicht klar, dass sie unschuldig war und es sich um einen Justizirrtum handelte. Antonia würde inzwischen wissen, dass man Rhia nach Newgate gebracht hatte. War es möglich, dass sie und Mr Montgomery glaubten, sie sei schuldig? Konnten sie das wirklich denken? Warum hatten sie nicht dafür gesorgt, dass man sie freiließ? Jedes Mal, wenn sie diesen Gedanken hatte, stieg
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