Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
versäumt hat, zu Gericht zu erscheinen.« Das Gemurmel wurde lauter, und Rhia blickte zu Dillon hinauf. Was hatte das zu bedeuten? Er schüttelte bloß mit finsterer Miene den Kopf. Der Ankläger schlug mit einem kleinen Holzhammer auf seinen Stand. »Die Anklage lautet auf Diebstahl von zwei Meter indischer Seide, mit wertvollen Steinen bestickt.« Die Menge schnappte theatralisch nach Luft, wurde aber sofort vom Hammer des Anklägers zum Schweigen gebracht. Er wandte sich an Rhia. »Wie plädieren Sie?«
»Ich bin natürlich nicht schuldig, aber ich möchte gerne …« Lautes Gelächter übertönte, was sie zu ihrer Verteidigung vorbringen wollte, und der Hammer donnerte erneut nieder. Das Gelächter schockierte Rhia. Langsam liefen ihr die Tränen über die Wangen, und sie machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen, denn die Bewegung würde sie verraten. Der Ankläger schien gar nicht bemerkt zu haben, dass sie gesprochen hatte.
»Mir liegt hier die Aussage der Dienstbotin Hatty Franklin vor, in der ganz eindeutig dargelegt wird, dass man Sie dabei beobachtet hat, wie Sie am Abend des 25. Februar 1841 den Raum der Montgomery-Residenz, in dem eine große Menge kostbarer Textilien aufbewahrt wird, aufgesucht haben. Ist das korrekt?«
»Ja, das ist es, aber …« Die Hand gebot ihr zu schweigen.
»Und ist es so, dass Sie am zuvor erwähnten Datum eine Krinoline trugen?«
»Ja, aber ich muss …«
»Bitte versuchen Sie nicht, vor Gericht Ihren Willen durchzusetzen, Miss Mahoney. Sie sind lediglich hier, um die Fragen zu beantworten, die ich Ihnen stelle.«
»Ist es so, dass Ihre Familie in Irland vor kurzem ihre Existenzgrundlage verloren hat?«
Rhia kam es vor, als hätte er das Wort Irland unnötig betont, doch sie konnte sich nicht sicher sein. Sie nickte. Ihre Hände hatten angefangen zu zittern. Sie hielt sie ganz fest.
»Ja, das stimmt.« Sie senkte den Kopf. Nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie die Vorwürfe des Anklägers gar nicht mehr hörte. Als das Dröhnen seiner Stimme nachließ, blickte sie auf. Sie fragte sich, ob sie wohl verurteilt worden war. Darauf hatte er nur gewartet.
»Miss Mahoney, Sie werden hiermit von diesem Gericht des Diebstahls von zwei Metern bestickter indischer Seide, Eigentum von Mrs Prunella Montgomery, schuldig gesprochen. Sie werden forthin in das Millbank-Gefängnis transportiert und an einem noch zu bestimmenden Tag für sieben Jahre in die Kolonie Ihrer Majestät, New South Wales, deportiert.«
Es war ein Alptraum. Sie würde aufwachen und feststellen, dass sie immer noch in Newgate war oder in der Cloak Lane oder am St. Stephen’s Green. Vielleicht war Ryans Tod auch ein Traum gewesen und das Feuer ebenfalls. Rhia spürte, wie ihre Beine nachgaben, und sie klammerte sich an der Kante des Docks fest. So bei Sinnen war sie noch, um zu verstehen, dass dies kein guter Zeitpunkt war, um ohnmächtig zu werden.
Man führte sie fast sofort weg, ehe sie richtig begreifen konnte, dass die Verhandlung vorbei war, ehe ihr wirklich klargeworden war, dass man ihre Unschuld doch nicht bewiesen hatte.
Ein weiterer Gefangenentransport wartete bereits. Diesmal handelte es sich um ein unheilverkündendes schwarzes Vehikel ohne Fenster, das aussah wie ein Bestattungswagen. Als Rhia gerade den Fuß auf die Trittstufe stellen wollte, hörte sie jemanden ihren Namen sagen, und als sie sich umdrehte, sah sie, wie Mr Dillon mit einem der Aufpasser sprach. Er stellte sich als Mann von der Presse vor und erklärte, er würde über die Verhandlung berichten. Ob er kurz unter vier Augen mit der Gefangenen sprechen dürfe? Die Wärter, die ihn anscheinend wiedererkannten, zögerten, erlaubten ihm jedoch, sich ihr zu nähern.
Er nahm sanft ihren Ellbogen, viel sanfter, als sie je berührt worden war. Jedenfalls kam es ihr so vor, und sie wünschte, er würde sie nie mehr loslassen. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Ich muss mich kurz fassen. Mrs Blake hat mir gesagt, dass sie Ihre Verteidigung arrangiert hat. Ich verstehe nicht, was passiert ist, aber Sie können sich sicher sein, dass weder Mrs Blake noch ich Sie für eine Diebin halten. Ich habe dieses Ergebnis nicht erwartet … keiner von uns hat das. Ich werde persönlich Mr Montgomery aufsuchen und das Berufungsverfahren gegen Ihr Urteil sofort einleiten, aber das dauert. Geben Sie die Hoffnung nicht auf.« Er warf den Wärtern, die langsam ungeduldig wurden, einen
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