Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Molist

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erschauderte vor Ekel.
    »Du hast mir erzählt, dein Vater hätte dir beigebracht, die Himmelswesen zu erkennen, nicht wahr?«
    Joan erinnerte sich an die flaumigen, weißen und sich verändernden Wolken. Er seufzte wehmütig und nickte zustimmend.
    »Nun, heute wirst du ganz andere Wesen kennenlernen.«
    »Die Höllenwesen?«
    Die Frau lachte, ohne zu antworten. Sie nahm einen Napf, der mit etwas Unbestimmtem gefüllt war, zündete einen Span an der Öllampe an und hielt ihn an das Gemisch, das offenbar aus Kräutern bestand. Sie blies, und kurz darauf qualmte das Ganze. Der Rauch duftete und erinnerte Joan an Weihrauch. Die Hexe begann mit Beschwörungsformeln, die der Junge nicht verstand. Er beobachtete sie angespannt, und sein Herz klopfte schneller. Manchmal blies sie so hinein, dass der Rauch ihm ins Gesicht wehte. Nach und nach steigerte sich das Tempo ihrer Worte, bis es zu einem Gesang wurde. Die Hexe stand vom Tisch auf und tanzte mit kurzen Schritten, wobei sie weiter auf die rauchenden Kräuter in dem Napf blies, den sie in den Händen hielt. Der Rauch vermischte sich mit dem Dunst ringsum, so dass eine dichte, feuchte und drückende Atmosphäre entstand. Bald bemerkte Joan, dass ihn ein sonderbarer Schwindel überwältigte. Die Frau wiegte sich in den Hüften und umtanzte den Jungen, bis sie plötzlich innehielt und ihm befahl: »Sieh hier hinein.«
    Sie stellte ihm einen Holzbottich vor die Füße. Er gehorchte, obwohl ihn ein Schwindel packte und er lediglich dunkles Wasser am Boden erkannte.
    »Ich sehe nichts.«
    »Schau aufmerksam hin!«, drängte sie. »So lange, wie notwendig ist, bis du etwas erkennst.«
    Joan setzte sich auf den Schemel und stützte seine Hände auf die Ränder des Bottichs. Kurz darauf erkannte er etwas, was sich im dunklen Wasser bewegte. Eine Welle, eine Blase. Dann sah er ein Wesen, das den Kopf hervorstreckte: Es schien ein Fisch zu sein, der ihm etwas sagen wollte, was er nicht verstehen konnte. Doch als er untertauchte, zeigte er Beine und Geschlecht an seinem Unterleib, als handelte es sich um einen winzigen Mann. Joan wollte seinen Augen nicht trauen. Er starrte eine ganze Weile aufmerksam ins Wasser, ohne dass noch etwas geschah. Schließlich überlegte er, ob er die Hände in das dunkle Nass tauchen sollte, um dieses Wesen zu fangen. Doch da bemerkte er eine andere Bewegung, und er sah, wie eine fremdartige Gestalt aus dem Wasser kroch und am Rand des Gefäßes hochkletterte. Sie trug ein rotes Wams und einen Bischofshut, und als sie den ganzen Körper aus dem Wasser zog, ließ sie erkennen, dass ihre untere Hälfte die einer Eidechse war und einen langen Schwanz hatte. Danach erschien eine weitere Gestalt mit einem kleinen Schwert, einem Schild und Vogelbeinen. Nun kam noch eine, die halb Tier und halb Mensch war und ebenfalls mit einem Schwert bewaffnet war. Die Wesen begannen einen Kampf, als noch weitere zwei erschienen, die Viola und Flöte spielten. Nacheinander tauchten diese kleinen halbmenschlichen Wesen aus dem dunklen Wasser auf, bewegten sich, kämpften und tanzten.
    Joan sah ihnen staunend zu. Schließlich verließen die Wesen den Bottich und schwebten im leeren Raum umher. Diese Gestalten machten ihm keine Angst. Sie waren ihm vertraut. Er hatte ihre Darstellungen in einigen Büchern gesehen, die er kopiert hatte. Nach und nach nahmen sie weniger bekannte, wunderlichere und buntere Formen an. Ein Wesen, dessen Oberteil das eines Kaninchens mit langen Ohren war, tanzte mit einer Frau, die üppige Brüste hatte, aber von der Taille abwärts ein Gerippe war. Ratten mit Kronen und anderen Kennzeichen der Königswürde erteilten Befehle an Inquisitoren, die wie Schweine aussahen, und auf diese Weise bewegten sich unablässig Dutzende von Zwittern oder vermenschlichten Tieren.
    Die Hexe hörte auf zu singen, doch ihr Gesang setzte sich in der Bewegung der Gestalten fort.
    »Joan!«, hörte er irgendwann die Hexe rufen. »Joan!«
    Auf einmal hielt das wilde Treiben inne. Die Wesen verschwanden, und die Dunkelheit kehrte zurück.
    »Denk an die Piraten und deine Familie. Erinnere dich«, sagte die Hexe. »Denk an den Administrator und den Selbstmord deines Freundes, an Felip, die Inquisitoren und Annas Flucht … Entdecke deinen Hass.«
    Er spürte, dass die Übelkeit von seinem Magen zur Kehle hochstieg, und er bemerkte, wie sein Zorn aus dem Innersten seines Körpers hervordrang. Wenn er genug Macht besessen hätte, würde er all die auf der Stelle töten,