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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Molist
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schreiben, die Übrigen konnten nur mühsam lesen. Darum mussten ihnen Joan und der Schreiber bei Berichten und Protokollen helfen.
    Der Junge entdeckte, dass es einige Bücher an Bord gab, und es rührte ihn, als er darunter den ersten Band des
Verliebten Roland
von Matteo Maria Boiardo auf Italienisch entdeckte – den gleichen, den Abdalá für Anna übertragen und den er selbst abgeschrieben und eingebunden hatte.
    Dieses Buch war sein Liebesbote gewesen. Es vereinte ihn mit Anna, und er nahm es gerührt in die Hände. Es war keine Prachtausgabe, sondern ein einfaches Druckwerk, allerdings mit einem guten Ledereinband. Es war nicht mit jenem Buch zu vergleichen, das er mit all seiner Zuneigung für seine Liebste hergestellt hatte, und trotzdem drückte er es an die Brust. Sie hatte es in seiner eigenen Schrift gelesen, und als er das Buch berührte, stellte er sich vor, dass er sie berührte. Es kam nicht darauf an, dass es nicht derselbe Gegenstand war. Es enthielt dieselben Worte, dieselben Sehnsüchte, Wünsche, Gefühle und Ideen, von denen sie gelesen und die sie darum gedacht, gefühlt und ersehnt hatte. Das war die Zauberkraft der Bücher.
    Er schlug es auf und trug leise vor:
    Betörter Roland (spricht sein Herz voll Bängnis),
    Wohin entreißt dich Wahn der Leidenschaft?
    Gewahrst du nicht den Irrtum, dess’ Bedrängnis
    Zu solcher Sünde gegen Gott dich rafft?
    Wohin, wohin noch führt mich mein Verhängnis?
    Gefangen bin ich, ohne Hilf’ und Kraft!
    Mich, der die ganze Welt für nichts gefunden,
    Mich hat ein wehrlos Mägdlein überwunden.
    Er war so gefangen, dass er nicht den Admiral sah, der sich ihm von hinten näherte. Als er seine Anwesenheit bemerkte, fühlte er sich ertappt wie ein Messwein trinkender Ministrant und klappte das Buch zu.
    »Verstehst du das?«, fragte ihn der andere rundheraus.
    »Ja, Herr Admiral.«
    »Könntest du das übersetzen?«
    »Selbstverständlich.«
    »Ich spreche Süditalienisch, aber das ist auf Toskanisch geschrieben, und ich kann mir manche Abschnitte nicht erklären«, bekannte der Admiral.
    Er machte einen gutgelaunten Eindruck, und das beruhigte Joan etwas. Er nickte zustimmend. »Es wird mir eine Ehre sein, wenn ich Euch helfen kann.«
    Der andere blickte ihn nachdenklich an. Dann sagte er: »Mir fällt etwas Besseres ein. Beim Abendessen auf dem Kampanjedeck liest du es laut vor. Zuerst auf Italienisch, damit wir den Wohlklang der Verse genießen, und danach übersetzt du es. So erfreuen wir uns an der Dichtung und an der Geschichte, und nebenbei werden meine Offiziere mehr Italienisch lernen, was sie dringend nötig haben.«
    Joan stimmte zu. Es werde ihm eine große Freude sein, diesen Auftrag zu erfüllen. Er kannte die Übersetzung Abdalás beinahe auswendig. Er war in der Lage, manche Abschnitte vorzutragen, ohne sie überhaupt zu lesen, und das tat er mit so großer Inbrunst, dass es ihm schließlich vorkam, als spräche er zu seiner Liebsten. Mehrmals konnte er nur mühsam einen Seufzer unterdrücken. Wenn er sonst schon viel an Anna dachte, bewirkte diese Lektüre, dass er sich mit ihr vereint fühlte. Doch der Traum verflog allzu schnell. Sie war ja in Neapel, vielleicht schon mit jenem reichen Witwer verheiratet, unerreichbar für Joan.
    Nach einem solchen Vortrag wischte sich sogar Kapitän Perelló eine Träne aus dem Auge und sagte: »Sehr gut, Junge. Uns überrascht, dass ein scheinbar harter Bursche und guter Artillerist wie du ein empfindsames Herz hat und Fremdsprachen und Poesie kennt. Ich freue mich, dass ich dich nicht wie deinen Freund am Mast aufgehängt habe.«
     
     
    Endlich fühlte sich Joan in der Lage, Anna zu schreiben. Er bekannte, dass er seine Liebe für sie vollkommen bewahrt habe, dass er sie immer lieben werde und nach Neapel komme, sobald es ihm möglich sei.
    Er müsste warten, bis sie in Palermo eintrafen, um den Brief abzuschicken, und weil er die Adresse Annas oder die des Buchhändlers nicht kannte, würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als den Brief an seinen Freund Bartomeu nach Barcelona zu schicken, und dieser könnte ihn dann nach Neapel weiterbefördern. Dort würde ihn Anna beim Freund Bartomeus in der Buchhandlung abholen, sobald sie dies konnte. Das war ein überaus langer Weg, und Gott allein wusste, wann sie seinen Brief erhalten würde.
     
     
    Am zweiten Tag nach ihrer Abfahrt von der sardinischen Küste verdunkelte sich der Himmel, der Wind wurde zunehmend stärker, und die Wellen schlugen immer

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