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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Molist
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gewissen Schutz vor der aus dem Norden heranrollenden Brandung.
    Es nieselte immer noch, und das graue Tageslicht ließ endlich die Wirklichkeit erkennen: Große Abschnitte der am Meer liegenden Stadtmauer waren zerstört. Eine breite Sandfläche war von Steinblöcken gesäumt, die früher zur Mauer gehört hatten. Der Sand drang bis zu den ersten Stadtgebäuden vor und war schon dabei, sie zu verschlingen. Joan hatte sich gefreut, die großen Bauwerke zu bestaunen. Doch selbst ein Fischerjunge konnte den Eindruck von langjährigem Verfall und Fäulnis an ihnen wahrnehmen.
    »Das war nicht immer so«, sagte Bartomeu in entschuldigendem Ton, als hätte er die Gedanken des Jungen erraten. »Vor zwanzig Jahren, vor dem Bürgerkrieg und den Pestilenzen, in der Zeit von Alfons V., war diese Stadt reich und mächtig … Jetzt ist sie nicht einmal in der Lage, nach einem großen Sturm ihre Mauern wiederaufzubauen.«
    Sobald sie an Land gegangen waren, heuerte Bartomeu mehrere Lastträger an, die man
Bastaixos
nannte. Diese sollten ihre Waren auf dem Rücken bis zum Santa-Anna-Kloster am anderen Ende der Stadt befördern. Als Joan ein besorgtes Gesicht machte, erklärte ihm Bartomeu, wenn man die Waren diesen kräftigen Burschen überlasse, gebe man sie in sichere Verwahrung. Sie würden sie mit ihrem Leben beschützen und niemals einen Sueldo über den Tarif hinaus verlangen, den ihre Bruderschaft – eine der am meisten geachteten von Barcelona – festgelegt habe.
    Dort, wo der sandige Küstenstreifen endete, befand sich ein Gebäude, dessen Größe die Kinder beeindruckte. An stürmischen Tagen wurde es gewiss von den Wellen umspült. Bartomeu erklärte, das sei die
Lonja
, die Handelsbörse. Ein paar Schritte weiter sahen sie einen großen Platz, der auch mit Sand und Gestrüpp bedeckt war. Der Kaufmann deutete auf die Gebäude, die neben der Lonja um den Platz herum standen: das Haus des Generalrats, das Meereskonsulat und das Zollhaus. Dorthin ging Bartomeu zusammen mit den Lastträgern, um die Zollsätze für die Waren auszuhandeln, die viel niedriger als die üblichen sein würden, weil die Waren der Kirche gehörten.
    Widerwillig und verstohlen blickten die Jungen zu dem Galgen hinüber, der in der Mitte des Platzes aufgerichtet worden war und an dem eine von den Vögeln halb zerfressene Leiche hing.
    »Der Ort hier heißt ›Plaza de les Falsies‹, das bedeutet ›Platz der Lügner oder der Verräter‹«, teilte ihnen der Schiffsführer der Feluke mit, nachdem er in Richtung des Toten hin ausgespuckt hatte. »Man hat ihn so genannt, weil wir Seeleute hier zusammenkommen, und die Städter behaupten, dass wir übertreiben und lügen würden, sobald wir den Mund aufmachen. Zweitens hat es damit zu tun, dass man hier Verräter und andere Verbrecher henkt. Der Gehenkte ist der Willkommensgruß und die Warnung der Stadt an uns, die wir übers Meer hierherkommen.«
    Joan zuckte zusammen, als er beobachtete, wie sich die Jungen aufführten, die die aasfressenden Vögel mit Steinen bewarfen und den Toten anstelle der Vögel trafen. Als er feststellte, wie abgemagert die Kleinen aussahen, begriff er, dass man auch hier in der Stadt hungerte. Er merkte, wie sich Gabriels Hand an seine klammerte. Joan starrte den Toten voller Abscheu und Faszination an.
    Der graue Tag, der Gehenkte und der unheilvolle Gesamteindruck schüchterten den Jungen zutiefst ein. Er hatte das Gefühl, all das sei ein schlechtes Vorzeichen, und bekam Angst. Was würde ihnen diese Stadt bringen? Er war für seinen Bruder verantwortlich, und nun drückte er ihm fest die Hand, um ihm Mut zu machen.
     
     
    Nachdem er mit den städtischen Beamten um den Preis gefeilscht hatte, kam Bartomeu zufrieden zurück. Er hatte seine eigenen Waren heimlich unter die des Santa-Anna-Klosters gemischt und so eine stattliche Steuersumme gespart.
    »Dort entlang«, zeigte er den Trägern, die schon vorangegangen waren.
    Sie kamen in die Carrer de les Canvis Vells, die »Straße der Alten Wechselgeschäfte«. Dort hielt Bartomeu den Zug an, um für das Geld, das er auf der Reise eingenommen hatte, Münzen aus Barcelona einzutauschen. Als sie weiterliefen, erklärte er den Jungen, wie wichtig die Geldwechsler waren, denn es kursierten so viele lokale und ausländische Münzen, dass es sehr schwierig sei, einen klaren Überblick zu bekommen. Die Geldwechsler hatten ihre Tische, die sie als »Bank« bezeichneten, in Canvis Vells und Canvis Nous, und ihre Ehrlichkeit

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