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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Molist
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musste über jeden Zweifel erhaben sein. An ihren Bänken hingen große Metallscheren mit einer festen Klinge, und die Wechsler hatten die Anweisung, damit jede von ihnen entdeckte falsche Münze zu zerschneiden. Wenn man bewies, dass einer von ihnen bei seinen Geschäften betrog, zerbrachen die städtischen Beamten seinen Tisch. Das nannte man ›öffentlichen Bankrott erleiden‹. Wenn ein solcher Geldwechsler doch einmal Gnade finden konnte, durfte er sich nie wieder in Canvis Vells niederlassen, wohl aber bei den »neuen« Wechslern in Canvis Nous. Damit waren die Leute gewarnt, dass er eine zweifelhafte Vorgeschichte hatte.
    Kurz nachdem sie die Kreuzung mit Canvis Nous hinter sich gelassen hatten, bewunderten die Jungen die eindrucksvolle Fassade von Santa María del Mar mit ihrem Bogenportal und dem Rosettenfenster. Sie erinnerten sich an die kleinen Kirchtürme, die sie vom Boot aus in der Ferne gesehen hatten, und legten – überwältigt von der Größe des Bauwerks – den Kopf in den Nacken. Die Träger bekreuzigten sich, denn Maria war ihre Schutzpatronin, doch sie blieben nicht stehen, wie es Joan sich gewünscht hätte. Stattdessen liefen sie weiter in die Calle Argentería – die »Straße der Silberwaren«. Dort hatten die Juweliere ihre Läden und stellten ihre Arbeiten auf Tischen aus.
    »Das hier hättet ihr vor zwanzig Jahren sehen sollen, vor dem Bürgerkrieg«, sagte Bartomeu. »Die Straße war voller Tische. Jetzt sind nur ein paar übrig, und sie haben keine besonders wertvollen Stücke zu bieten. Die meisten Juweliere waren Juden, genauso wie die Geldwechsler. Ihre Familien hatten sich wegen der blutigen Verfolgungen vor einem Jahrhundert zum Christentum bekehrt. Diese Neuchristen nennt man Konvertiten.«
    Joan fielen ein paar Anhänger aus Silber und Gold auf, mit denen rote Korallen eingefasst waren. Er blieb kurz stehen, um sie näher zu betrachten: Nie hatte er etwas Ähnliches gesehen, und er bestaunte die Schönheit dieser Schmuckstücke. Er betrachtete die Qualität der Korallen, und zufrieden stellte er fest, dass die Stücke, die er in seinem Bündel versteckt hatte, besser waren. Da erblickte er ein junges Mädchen, vielleicht etwas jünger als er, das die Waren beaufsichtigte, während ein Mann, der wohl ihr Vater war, sich an einem nahen Tisch damit beschäftigte, Silber zu ziselieren. Sie war sehr hübsch. Gerne hätte er sich erkundigt, wie teuer der Schmuck war, damit er einen Anhaltspunkt hatte, wie viel seine Korallen wert sein könnten, doch er wagte es nicht. Er hoffte, dass er noch eine bessere Gelegenheit dazu finden würde. Das Mädchen bemerkte sein Interesse. Ihre Blicke trafen sich, wandten sich jedoch sofort wieder voneinander ab. Joan betrachtete die Schmuckstücke erneut, nur dass er nicht mehr an den Wert der Korallen, sondern an das Mädchen dachte. Da rief ihnen Bartomeu zu, der mit den Trägern vorausgelaufen war: »Kommt! Lasst euch nicht ablenken, sonst verlauft ihr euch!«
    Joan sah wieder das Mädchen an. Sie trug ein elegantes Gewand, das ihre schmale Taille betonte. Sie hatte weiße Haut, und ihr schwarzes Haar hob die leuchtenden grünen Augen wirkungsvoll hervor. Sie lächelte ihm zu und hielt seinem Blick stand, und auf ihren Wangen bildeten sich reizende Grübchen. Joan sagte sich, dass er noch nie ein so schönes und so anmutiges Wesen gesehen hatte, und er spürte, wie ihn diese düster wirkende Stadt auf einmal auf ihre Art und Weise willkommen hieß. Der Junge erwiderte das Lächeln des Mädchens, wobei er errötete. Nachdem er seinen Bruder an der Hand genommen hatte, lief er der Gruppe hinterher, die weiter oben auf der Straße schon in der Menge untertauchte.
    Als er sich entfernte, fühlte er sich schuldig gegenüber Elisenda, die zusammen mit seiner Mutter und Schwester eine Gefangene der Mauren war. An diese Frauen sollte er denken. Trotzdem konnte er sich nicht zurückhalten und blickte sich um, weil er ein letztes Bild des Mädchens erhaschen und es so im Gedächtnis bewahren wollte.
     
     
    Anna half ihren Eltern im Laden und bei manchen Arbeiten, die die Dienstmagd nicht erledigte, so etwa, Wasser am Brunnen zu holen. Als sie an diesem Morgen sah, wie ihr dieser Junge einen letzten Blick zuwarf, bevor er in der Menge untertauchte, verfiel sie ins Grübeln. Sie war gerade zwölf Jahre alt geworden und hatte schon erkannt, wie ihre grünen Augen und ihr Lächeln wirkten. Die größeren Jungen streunten bereits auf der Straße umher

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