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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Molist
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und spielten sich vor ihr auf, und obwohl es zwei gab, die ihr Interesse erregten, belohnte sie sie nur selten mit einem aufmerksameren Blick und einem Lächeln. Ihre Eltern sagten, ihr Liebreiz sei so groß, dass sie einen reichen Bürger oder sogar einen Adligen heiraten könne und dass sie nur auf den geeigneten Kandidaten warten müsse. Dieser spindeldürre Junge mit der geraden und kräftigen Nase, den dunklen Augen und dem zerzausten, von der Sonne gebleichten braunen Haar war das ganze Gegenteil davon. Die sonnengebräunte Haut seines Gesichts und seiner Hände gab zu erkennen, dass er zur Unterklasse gehörte und einer von denen war, die unter freiem Himmel arbeiteten. Über dem Hemd trug er einen Kittel aus Rohwolle, den er mit einem Lederband umgürtet hatte. Seine Schuhe waren aus grobem Hanf, und das Bündel, das er am Ende eines Gegenstandes schleppte, der einem kurzen Spieß glich, kennzeichnete ihn als einen Dörfler, der gerade erst in die Stadt gekommen war. Er hielt einen kleinen Jungen an der Hand, der ihm ähnelte, dessen Augen aber die Farbe von Honig hatten. In den Augen des Größeren war eine Mischung aus Trauer, Entschlossenheit und Kraft und zugleich Verletzlichkeit. Ungewollt lächelte sie ihm zu und erkannte sofort, welche Wirkung dies bei ihm hervorrief. Der Junge hielt ihrem Blick stand, aber seine Wangen röteten sich. Er antwortete ihr mit einem schönen Lächeln, deutete mit dem Kopf eine Abschiedsgeste an und lief mit seinem Bruder eilig die Straße hinauf.

12
    A m Ende der Calle Argentería entdeckte Joan zu seiner Überraschung eine mächtige Mauer, die sehr alt aussah und im oberen Teil Fenster und Bogen hatte. Wie Bartomeu erklärte, gehörte diese zu den ältesten Stadtmauern, die den Hügel umgaben, auf dem sich der Stadtkern erhob. Ohne stehen zu bleiben, liefen sie über einen kleinen Platz, der Plaza del Blat – »Weizenplatz« – hieß. Sie kamen unter einem Bogen hindurch, der sich in der Mauer öffnete, betraten die Altstadt und stiegen die Calle Especiers – die »Straße der Gewürzhändler« – hoch. Dort, gleich vor den Hauseingängen, gab es zahlreiche Verkaufsstände, die mit bunten Sonnendächern überzogen waren. Verschiedene Krüge, Säckchen und Kästen mit Kräutern, Gewürzen und anderen Zutaten erfüllten die Luft mit ihren Gerüchen.
    »Gewürze sind in Barcelona sehr wichtig«, erklärte ihnen Bartomeu mit der Begeisterung eines erfahrenen Kochs. »Wir essen gerne gut, selbst in einem Jahr mit einer schlechten Ernte wie diesem und trotz des Elends, das uns seit dem Bürgerkrieg begleitet. Die Gewürze richtig zu gebrauchen ist eine Wissenschaft, und wenn das Essen knapp oder nicht in bestem Zustand ist, muss man häufig seine ganze Kunst aufbieten, um es schmackhaft zu machen.«
    Diese ihm zum größten Teil unbekannten Gerüche begeisterten Joan. Er bemühte sich, den Erklärungen des Kaufmanns zu folgen, während er sich fragte, was diese Gefäße wohl enthielten. An manchen Tonwaren hatte man Buchstaben eingeritzt, oder sie trugen kleine beschriftete Pergamentstreifen. Joan erinnerte sich daran, was ihm Bartomeu über die Bücher gesagt hatte, und er dachte, wenn er lesen könnte, würde er den Inhalt jedes Topfes kennen.
    Die Verkaufsstände und die vielen Leute behinderten das Vorwärtskommen. Ihre Lastträger verlangten nun mit lauten Rufen, durchgelassen zu werden, wobei sie die Passanten ohne allzu viel Rücksicht beiseiteschoben. Joan stellte überrascht fest, dass es an dieser mitten in der Stadt liegenden Straße zerstörte Häuser gab, und er fragte Bartomeu danach.
    »Die Hausbesitzer haben sie selbst abgerissen.«
    »Warum?«, erkundigte er sich erstaunt.
    »Nun, es hat viele Pesttote gegeben, außerdem sind eine Menge Einwohner vor dem Hunger aus der Stadt aufs Land geflohen. Daher haben wir immer weniger Einwohner und zu viele Häuser. Die Eigentümer müssen Steuern und Pacht für das Gelände bezahlen, das meistens Geistlichen gehört. Also tragen sie lieber die Häuser ab und sparen sich auf diese Weise die Zahlungen.«
    Es begann zu nieseln, und die Kaufleute brachten die Waren ins Innere ihrer Geschäfte, als Joans Blick an einem großen aufgeschlagenen Buch hängenblieb. Es wurde von einem roten Sonnendach geschützt und lag auf einem Pult. Darin war Mariä Verkündigung dargestellt. Es war ein prächtiges Bild in allen Farben und voller Goldverzierungen. Zu sehen war ein schöner Engel, der einer entzückenden,

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