Am Montag flog der Rabbi ab
gegeben hatte.
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«In dem Buch will ich die öffentliche Meinung in Israel schildern, nicht die von Regierungsbeamten oder großen Tieren, sondern vom Mann auf der Straße – Jude, Araber, Männer, Frauen, Junge und Alte.» Stedman kam in Fahrt. «Verstehen Sie, Rabbi, wenn Sie mit einem Beamten reden, kriegen Sie nichts weiter als die offizielle Meinung, die bereits durch die Presseverlautbarungen der Regierung veröffentlicht worden ist. Bringen Sie aber die Durchschnittsmenschen zum Sprechen, bekommen Sie Einblicke in die politische Situation, die den offiziellen Nachrichten zugrunde liegt.»
«Und wie geht das vor sich?», erkundigte sich Miriam. «Halten Sie Leute auf der Straße an?»
«Manchmal ja, Mrs. Small, aber ich sag ihnen nicht, dass ich sie interviewen möchte, weil sie dann entweder in totale Abwehrstellung gehen oder das erzählen, was Sie ihrer Meinung nach gern hören wollen. Ich versuche, etwas differenzierter vorzugehen. Ein Beispiel. Ich frage einen Mann auf der Straße nach dem Weg, und zwar liegt mein angebliches Ziel in der Richtung, die er eingeschlagen hat. Gewöhnlich sagt er dann, er habe den gleichen Weg, und dann gehen wir zusammen weiter. Wir kommen ins Gespräch, und wenn sich’s anhört, als könnte es interessant werden, schalte ich mein Tonbandgerät ein. Ich kann das unbemerkt in der Jackentasche tun, sodass sie keine Ahnung davon haben. In meinem Hotelzimmer beschrifte ich dann alles und kann es dann kollationieren, redigieren und auswerten, wann es mir passt.»
«Sind Ihre Interviews in Englisch oder Hebräisch oder in anderen Sprachen?», erkundigte sich der Rabbi.
«Ich habe hebräische, jiddische, englische und sogar französische. Mein Jiddisch ist ausgezeichnet, mein Französisch passabel. Auch mein Umgangshebräisch reicht im Allgemeinen völlig aus. Ich war ungefähr ein Dutzend Mal hier, zuletzt über ein Jahr. Gelegentlich allerdings stoße ich auf einen schwierigen Kunden, wie gerade neulich. Es war ein Intellektueller, und er gebrauchte Wörter, die ich noch nie gehört hatte. Aber das ist ein weiterer Vorteil der Tonbandmethode. Ich kann es immer wieder abspielen und die Ausdrücke, die ich nicht kenne, im Lexikon nachschlagen.»
«Aber wie haben Sie Ihre Antworten oder die nächste Frage formulieren können, wenn Sie nicht verstanden haben, was er sagte?», wollte der Rabbi wissen.
«Ach, das Wesentliche hatte ich schon kapiert. Was mir entgangen war, waren die feinen Nuancen. Möchten Sie mal bei Gelegenheit ein paar Tonbänder hören?»
«Ja, sehr gern», sagte der Rabbi. «Allerdings glaube ich nicht, dass mein Französisch vom College ausreicht, um einem Gespräch zu folgen.»
«Ich habe nicht sehr viele in Französisch, nur ein paar. Sie stammen aus einem Restaurant, in dem eine Menge sephardische Juden aus Nordafrika saßen. Wie wär’s, vielleicht möchten Sie mich mal begleiten? Wenn Sie morgen Vormittag nichts anderes vorhaben …»
«Nichts Dringendes.»
«Und Sie auch, Mrs. Small.»
«Ich würde gern mitkommen, aber ich bin vormittags im Hadassa.»
Als sie sich am nächsten Morgen trafen, sagte Stedman: «Vielleicht ist es gar kein Nachteil, dass Ihre Frau nicht konnte. Zu dritt dürfte es schwieriger sein, ein Gespräch in Gang zu bringen.»
«Das nehme ich auch an. Übrigens hat mich Miriam gebeten, Sie zu fragen, ob Sie morgen Abend zum Dinner zu uns kommen möchten. Wir würden uns freuen, wenn auch Ihr Sohn dabei wäre. Als Sie am Telefon erwähnten, dass Ihr Sohn hier an der Universität studiert, rechneten wir eigentlich damit, er würde Sie begleiten.»
«Wissen Sie, Roy hat immer sehr viel zu tun. Ich sehe ihn ungefähr einmal wöchentlich; wir essen dann zusammen. Ich bemühe mich, ihn in seinem Leben so wenig wie möglich zu beeinträchtigen. Ich bin nicht sicher, ob er morgen Abend kann, aber ich werde ihn fragen.»
«Ich dachte, da morgen Sabbat ist, wäre er wahrscheinlich frei. Vielleicht macht ihm ein Sabbatmahl Freude, und ich würde ihn gern kennen lernen.»
«Das wäre mir auch sehr lieb, Rabbi.» Er hielt inne und fasste dann einen Entschluss. «Ehrlich gesagt – ich weiß einfach nicht, wie ich ihn behandeln soll. Nach meiner Scheidung von seiner Mutter – er war damals zehn – hatte ich natürlich das Recht, ihn zu besuchen, war aber beruflich oft lange Zeit im Ausland. Wenn ich in den Staaten war, ließ es meine Frau nicht zu, dass ich die entgangenen Besuche nachholte. Ich kann ihr das nicht verdenken, denn
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