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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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übertriebenen Euphorie, hatten doch 50 Millionen Menschen ihr Leben in diesem Krieg verloren. Nichtsdestoweniger wurde VE-Day (»Victory in Europe«) ausgerufen, die kriegsmüden Länder Europas atmeten kollektiv auf und feierten das Ende des Leidens in den Großstädten Europas mit ausgelassenen Straßenfesten. Für die Sperry-Brüder in Fernost stand jedoch noch keine Heimreise bevor. Die Japaner versuchten bis zuletzt, sich an die Vorherrschaft in Asien zu klammern, und bezahlten dafür einen bitteren Preis.

Eine Stimme in den Trümmern
    »Legen wir tatsächlich an?«, fragte Jack verwundert.
    »Ja, wir haben bis zum Abend frei und dürfen an Land. Wenn wir das hier überhaupt Land nennen können. Wir werden vermutlich nicht auf unseren Sieg anstoßen, Kameraden.«
    Die Matrosen unterhielten sich nicht über eine kurze Vergnügungsfahrt als Erholung nach einer langen Seefahrt. J389 hatte gerade am japanischen Ufer unweit der Stadt Hiroshima angelegt.
    Hier hatte die erste Atombombe am 6. August 1945 ihre tödliche Pilzwolke in die Luft geschleudert, bevor die Kriegshafenstadt Nagasaki wenige Tage danach ebenfalls in Schutt und Asche gelegt worden war, um die japanische Militärmacht endgültig in die Knie zu zwingen. 92 000 Zivilisten wurden mit diesen beiden Schlägen nicht nur in die Knie, sondern ins Grab gezwungen. Bis Jahresende und auch danach sollten es noch weit mehr werden, denn die Spätfolgen der beiden Atombomben ließen Tausende Menschen einen langsamen und qualvollen Tod erleiden.
    Fast ein halbes Jahr nach dem Abwurf blickte eine Gruppe von Marinesoldaten auf die leblose Geisterstadt, die früher eine blühende Metropole gewesen und jetzt in ein Totenreich verwandelt war. Das Trümmerfeld erstreckte sich über vier Quadratkilometer. Ein einziger Blick auf die flache, von Bergen umgebene Ebene genügte, um das unvorstellbare Maß der Tragödie zu erfassen.
    »Eine Ruinenstadt, die komplett von einer Schicht Staub verhüllt war. Ein leicht saurer Geruch, irgendetwas Chemisches, hing in der Luft. Farben gab es nicht. Ein Mausoleum für ein ganzes Volk«, schrieb Jack mit einem Schaudern in sein Tagebuch. »Nur das Krankenhaus war als Gebäude erkennbar. Wie ein Film, der in voller Bewegung plötzlich durch einen Filmriss anhält und sein Bild verliert. Aber anstatt nach Behebung des Defekts weiterzulaufen, implodiert er und zerstört die ganze Geschichte. Für immer. Und es war eben kein Film. Es war ein Ausflug in die Hölle. Befanden wir uns tatsächlich auf der Erdoberfläche oder waren wir eine Ebene darunter?«
    Die Soldaten irrten ungehindert durch die Ruinen. Zu reden wäre einem Verbrechen gleich gewesen. Es war, als ob aus dem vergifteten Boden die Schreie der Sterbenden hallen würden. Kinder, Männer, Frauen, die ihren normalen Geschäften nachgegangen waren. Und dann in einem Augenblick ausgelöscht, zu Hunderten, zu Tausenden.
    Plötzlich bewegte sich etwas mitten in der geisterhaften Stille. Eine kleine Traube Menschen durchkämmte die Überreste eines Wohnhauses. Mit einem Freudenschrei hob ein junges Mädchen die zerfetzten Reste einer Puppe in die Luft.
    »Als sie uns sahen, standen sie plötzlich Spalier und verbeugten sich tief«, schrieb Jack weiter, »ich musste kurz überlegen, warum, dann fiel mir mit Entsetzen ein, was seit Anfang dieser Exkursion nach Hiroshima bei uns allen völlig in Vergessenheit geraten war: Wir waren die Sieger, sie die Besiegten. Das wussten auch sie. Warum kam ich mir in dem Augenblick wie der hoffnungsloseste aller Verlierer vor? Diese armen Leute hatten doch nichts verbrochen. Warum erwischt es immer die Unschuldigen?«
    Es war eine dieser allzu kurzen Schnittstellen, an denen die gewissenlose Kriegsmaschinerie, die die Welt sechs Jahre lang erbarmungslos niedergewalzt hatte, ein menschliches Gesicht bekam: das verweinte Gesicht eines Kindes. Die gebeugte Gestalt einer jungen Mutter auf der Suche nach ihren Teetassen, nach ihrer Perlenkette, nach ihrem Baby.
    Jack erlebte den Augenblick wie in Zeitlupe. Irgendetwas noch nie Dagewesenes rührte sich tief in seinem Bewusstsein. Bilder flimmerten im Eiltempo durch seinen Kopf. Nachkriegsengland. Der Chefsessel seines Vaters, Geldscheine aufgestapelt auf einem Tisch. Schmucke Häuser in einem britischen Vorort, jedes mit einem Erker versehen und von einem Rosengarten umgeben. Seine Mutter liebte Rosen. Schachspiele mit seinem Bruder, ein Lagerfeuer mit den Pfadfindern. Ein gelegentlicher Predigtdienst.

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