Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
unter die Nase.
»Mahlzeiten werden zu getrennten Zeiten eingenommen, und nach den Vorlesungen müssen die Damen den Saal verlassen, bevor die Männer sich von ihren Plätzen erheben. Sie können uns gleich Scheuklappen aushändigen, oder? Die Marine war ein Honigschlecken im Vergleich zu dem hier!«
»Da gab es halt gar keine Frauen, Jack. So kann man das Problem auch lösen. Ach komm, deine atemberaubende Erscheinung wird die Damen schon aus der Ferne in eine kollektive Ohnmacht versetzen, ohne dass du ein Wort sagst.«
»Hör du bloß damit auf.« Jack schubste George kameradschaftlich in die Seite. »Ich bin nicht auf Abenteuer aus, sondern auf eine Beziehung fürs Leben. Wenn ich in drei Jahren irgendwo im karg bevölkerten Niemandsland im Auftrag des Herrn lande, dann muss ich doch vorher die entsprechende Frau kennenlernen, oder? Und wo soll ich sie finden, wenn nicht hier?«
Die unerbittliche Regel drei des Emmanuel-Colleges war kein willkürlicher Streich, um den Studenten das Leben schwer zu machen. Die Verantwortlichen dort nahmen die Anweisungen des Apostels Paulus an seinen jungen Freund Timotheus beim Wort: »Niemand, der Kriegsdienste leistet, verwickelt sich in die Beschäftigungen des Lebens, damit er dem gefalle, der ihn angeworben hat« (2. Tim 2,4).
Der Ruf in die Mission wurde nicht mit Gänseblümchenzupfen »vielleicht ja, vielleicht nein«, nach der Devise »Schauen wir mal, ob es klappt« beantwortet. Es gab für die Studenten nur die Antwort eines gehorsamen Soldaten auf den Befehl seines Generals, der Ruf bedeutete für sie die Absage an jeden Gedanken an Selbstverwirklichung und wurde im Vorfeld ernsthaft geprüft.
Es war nicht einfach, die Entscheidung rückgängig zu machen, nachdem sie gefällt worden war. Erst recht durfte der innere, konzentrierte Blick nicht durch romantische Liebschaften getrübt werden. Ein Missionar, der zum ersten Mal ins Ausland aufbrach, konnte erst nach fünf Jahren mit einem Heimaturlaub rechnen. Fehlentscheidungen kosteten einen hohen Preis.
Jack tröstete sich mit der biblischen Geschichte des ersten Menschen, der sich in einem Tiefschlaf befand, als ihm eine wunderschöne Frau von Gott selbst zugeführt wurde, und fügte sich, mehr oder weniger, den drakonischen Regeln der Geschlechtertrennung. Neugierige Blicke schweiften hin und her auf den getrennten Wegen zur Kirche, durch den Esssaal, vor und zurück im Vorlesungssaal, während die eifrigen angehenden Missionare sich in gewichtige Fächer wie Missiologie, Eschatologie, Homiletik, Christologie und Ekklesiologie vertieften.
Mitten im streng getakteten Tagesablauf der Missionsschule wuchs Jacks Überzeugung, dass sein Interesse am Volk der Eskimos mehr als ein Wunschtraum oder gar ein Überbleibsel der pompösen Ausführungen von Mr Grattidge in seiner Schulzeit war. Seine schönsten Stunden waren die Abende, an denen er alles daransetzte, diesem Volk auf die Spur zu kommen, seine Geschichte und Bräuche auszukundschaften.
Er fand zum Beispiel heraus, dass die Wikinger als erste Forscher auf diese Ureinwohner Grönlands und Nordamerikas gestoßen waren, dass sie sie »Skraellings« nannten und mit ihnen sowohl friedliche wie auch feindliche Begegnungen hatten. Der Name, der sich weltweit als umgangssprachliche Sammelbezeichnung für die Völker im nördlichen Polargebiet durchsetzte, war jedoch »Eskimo«, eine Abwandlung von zwei Indianerbegriffen: »Eskiquimantsic« und »Ashlimegu«. Beide Wörter bedeuten »Rohfleischesser«. Vom Standpunkt der Indianer aus, die die Eskimos als Konkurrenten um wertvolle Jagdreviere empfanden, war dies alles andere als ein Kompliment.
»Wahrscheinlich ist es dir nie als seltsam aufgestoßen, lieber Roy, dass die Eskimos seit Jahrhunderten in einer Umgebung überleben, in der sie kein Vitamin C aufnehmen können«, schrieb er an seinen Bruder. »Vitamin C ist übrigens, falls du dich nicht mehr an Biologie mit Miss Jolliffe erinnern kannst, die überlebenswichtige Substanz, die unser Körper aus Gemüse zieht. Der Boden in der Arktis ist aber immer tiefgefroren, es gibt kein Grünzeug. Das Überlebensgeheimnis der Eskimos steckt ausgerechnet in dem Namen ›Rohfleischesser‹. Das rohe Fleisch kommt ja großteils von Fischen und Robben, aber auch von Karibus. Letztere ernähren sich wiederum von kleinen Tundrabeeren, die in der Sommerzeit im Unterholz in der südlichen Arktis wachsen. Diese Dinge sind kleine Vitaminbomben. Auf diesem Weg kommt Vitamin C in
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