Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
aus und wischte sich mit einem großen Taschentuch den Mund und dann die Augen.
»Betty sparte viele ihrer Nahrungsrationen auf, um sie mir zu geben, Mr Sperry. Ich habe es erst hinterher erfahren. Sie ist immer so besorgt um mich.«
Jack konnte sich das gut vorstellen.
»Aber jetzt erzählen Sie mir mehr von Ihren Eskimos. Warum müssen gerade Sie dorthin? Können nicht andere gehen?«
»Es sind schon viele hingegangen.«
Mr MacLaren rutschte zum Rand des Sessels vor, aufmerksam nach vorne gebeugt. Weltgeschichte in jeder Form hatte ihn schon immer fasziniert.
»Besser für die Knöpfe«, dachte Jack insgeheim.
Jack erzählte, wie schon 1000 nach Christus der gläubige König Olaf von Norwegen Priester nach Grönland schickte. Im 18. Jahrhundert folgte ein evangelischer Pfarrer aus Norwegen, Hans Egede, den Fußspuren dieser ersten Missionare, er wurde als »Apostel Grönlands« bekannt. Er suchte vergeblich nach Spuren der früheren christlichen Siedlungen und baute seine eigene missionarische Arbeit auf. Inzwischen waren die Herrnhuter aus Deutschland in Grönland, Labrador und Kanada gelandet, erzählten den kanadischen Eskimos vom Evangelium und errichteten dort ihre eigenen Siedlungen. Katholische Missionsgesellschaften waren auch fleißig am Werk. Es waren aber Missionare der anglikanischen Kirche, die erst 100 Jahre später weiter ins schwer erreichbare Inland der kanadischen Arktis drangen.
»Auf diesen Forschungsreisen entdeckten die Briten etwas, das für weltweite Aufregung sorgte«, erzählte Jack.
»Und das war?«
»In der Zentralarktis lebte eine ungewöhnliche Volksgruppe von Eskimos, die blaue Augen hatten und ähnlich wie Europäer aussahen. Man fragte sich, ob diese vielleicht die verlorenen Grönland-Eskimos waren, Nachkommen der verschwundenen skandinavischen Missionare, die König Olaf geschickt hatte. Es gab aber keine Beweise.«
»Und Sie? Wo werden Sie leben?«
»Unsere Basisstation wird Coppermine sein, am westlichen Rand der Zentralarktis, die auch ›Nunavut-Territorium‹ genannt wird. Der Ort liegt knapp oberhalb des Polarkreises. Im Sommer sechs Wochen nur Tageslicht, im Winter sechs Wochen fast komplette Dunkelheit. Die Copper-Inuit, die in der Zentralarktis leben, sind das Volk, das unsere Hilfe am meisten braucht.«
»Aber alle Eskimos heißen doch Inuit, nicht wahr?«
»Stimmt, und es gibt viele verschiedene Inuit-Volksgruppen. In Coppermine wohnen die Kitengmiut, das heißt genau übersetzt ›die Menschen in der Mitte‹. Diese Menschen waren immer am schwersten zugänglich, sowohl vom Osten her als auch vom Westen. Frühere Missionare drangen nur so weit ins Inland vor, bis sie entweder durch zu viel Schnee und Eis oder durch zu viel Tauwetter aufgehalten wurden. Ich übernehme die St.-Andrew's-Mission von Harold Webster, der mit seiner Familie weiterzieht.«
»Und Ihre Aufgabe?«
»Betty wird für die Missionszentrale in Coppermine zuständig sein, wo alle Fäden zusammenlaufen. Schauen Sie hier, ich zeige es Ihnen auf einer Landkarte. Ich werde landauf und landab unterwegs sein. Aber nur im Winter. Dann frieren nämlich die Seen und das Meer zu, und das Reisen mit Hund und Schlitten ist möglich. Von Coppermine aus werde ich Gemeindemitglieder hier auf Victoria Island, nach Süden in den Barrenlands, östlich bis zur Spence Bay auf der Boothia-Halbinsel besuchen. Sie leben tatsächlich in Iglus.« Er klopfte mit seinem Finger auf die jeweiligen Ortsnamen auf der Landkarte, die er aus seiner Tasche gezogen hatte.
»Und das sind Ihre Gemeindemitglieder?«
»Jawohl. Diese Siedlungen haben die christliche Botschaft mit Freude aufgenommen, haben aber weder Bibeln noch ausgebildete Gemeindeleiter und sind zum Teil nach wie vor den Flüchen der Schamanen ausgesetzt. Der Aberglaube, der mit diesen Flüchen verbunden ist, kann sie das Leben kosten. Es gibt außerdem ein Projekt, das ich mehr als alles andere durchführen möchte, wenn alles gut geht.« Jack zögerte.
»Welches?«
»Mein Traum wäre, die Bibel in die Sprache der Kitengmiut zu übersetzen. Für ihren Dialekt haben sie nämlich keine Schrift. Aber das ist noch Zukunftsmusik. Erst müssen wir überhaupt dorthin kommen.«
»Sie wollen also Geschichte schreiben«, war der einzige Kommentar.
»Wenn es Gottes Geschichte, die Geschichte des Evangeliums wäre, wäre es für mich eine Ehre«, antwortete Jack nachdenklich. »Was Menschen davon halten, darf zweitrangig sein. Ich zweifle, ob viele Menschen sich
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