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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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Alltagsroutine auch für Missionare wurde, konnte man 50 Jahre in der gleichen Missionsgesellschaft im gleichen Land arbeiten, ohne sich jemals zu Gesicht zu bekommen.
    Es gab kein Zurück mehr. Damals unterzeichneten Missionare der Arktisdiözese einen Vertrag über fünf Jahre, ohne Heimaturlaub. Danach war eine sechsmonatige Pause vorgesehen. Das Gehalt betrug für einen ledigen Mann 1 400 Dollar im Jahr. Mit diesem Geld musste er alles finanzieren.
    Diese strengen Vorgaben wurden nicht infrage gestellt, sie gehörten zum Mandat dazu. Man lebte tapfer nach der Devise: »Der Herr wird uns versorgen.« Im Licht der Dringlichkeit des Missionsbefehls schien jede Beschäftigung mit Geld und materiellen Sorgen unnötig und trivial.
    »Und so gingen wir hinaus«, schrieb Jack später im nostalgischen Rückblick, »gespannt auf jene Menschen, die unsere Fantasie und unsere Planungen jahrelang so sehr vereinnahmt hatten. Dennoch hing ein Schatten über unserer Vorfreude. Diejenigen, die auf uns warteten, würden sie auf uns genauso freudig gespannt sein wie wir auf sie? Würden wir ein Gewinn für diese Menschensiedlungen im hohen Norden sein, oder würden sie uns lediglich als Agenten aus dem Ausland sehen?«

    Jacks erster Sitzplatz auf der Reise gen Norden war eine alte Orangenkiste. Auf dieser Kiste saß er, sein nagelneuer Parka mit Erbrochenem – nicht seinem eigenen – bespritzt, in einem wackeligen einmotorigen Flieger, der durch einen eiskalten Himmel auf ein unbekanntes Ziel hintaumelte. Bäume, Straßen und sonstige Spuren menschlicher Existenz waren schon längst außer Sichtweite. Aus dem Fenster hinaus sah er nichts: eine unendliche Leere, die so weit reichte, wie das Auge sehen konnte.
    Es war der 21. Juni 1950. Er hatte sich eigens schick gemacht in der Hoffnung, auf der letzten Etappe seiner Reise gleich Mitglieder seiner neuen Pfarrgemeinde begrüßen zu dürfen. Eine nagelneue Jacke und, natürlich, sein Beffchen , er war schließlich seit wenigen Wochen ordinierter Pfarrer der anglikanischen Kirche. Vom Anfang des Sommers war noch wenig zu sehen. Überall lag noch Schnee. Die Temperatur war nicht weit über null.
    Aber keine noch so gute Vorbereitung konnte ihn für diese ersten Augenblicke seines neuen Lebens ausrüsten.
    »Äääh, hallo, ich bin Reverend John Sperry, der neue …« Weiter kam er nicht.
    »Da hinten!« Der Pilot, der keine Uniform trug und im Begriff war, Postsäcke und Kisten voller Lebensmitteldosen ins Flugzeug zu laden, schien von seinem gebildeten Passagier nicht beeindruckt zu sein.
    »Hinten zum Gepäck!«
    Tatsächlich. Nicht der Ehrenplatz neben dem Piloten war für den neuen Missionar gedacht – der scheinbar einzige Passagierplatz in diesem seltsamen Fluggerät –, sondern die Kiste neben dem Gepäck im Rumpf der Maschine.
    »Sicherheitsgurte?«, wagte Jack zögerlich zu fragen, nachdem er einen Blick durch die Tür geworfen hatte. Die einzige Antwort war ein lautes Lachen des Piloten.
    »Festhalten tut’s auch!«, rief er.
    Jack machte es sich zwischen den Postsäcken so bequem, wie er konnte. Irgendwo ganz hinten saß ein zweiter, unscheinbarer Passagier mit seinem Hund.
    Einen leisen Zweifel, ob diese Berufung wirklich der göttliche Ruf war, für den er ihn gehalten hatte, und wenn ja, ob es klüger gewesen wäre, nicht auf ihn zu hören, hätte man ihm in diesem Augenblick verziehen.
    »Ich wäre nicht der erste fahrlässige Abenteurer, der einen Flug in den Tod gebucht hätte.« Er rückte seinen verrutschten sakralen Kragen wieder gerade.
    Noch wusste er nicht, dass Ernie Boffa, der wenig vertrauenerweckende Mann am Steuer, einer der bewährtesten Piloten der Arktis war. In Sachen Sicherheit befand sich Jack in besten Händen. Während er aber auf seiner Orangenkiste hockte und eine halbe Stunde lang auf den Abflug wartete, gingen ihm ganz andere Gedanken durch den Kopf.
    »Was Betty wohl hiervon halten würde?«, fragte er sich mit einem kurzen Stich im Herzen.
    Zwei Jahre lang sollte er sie nicht sehen. Die Aussicht auf ein bequemes Leben als Mitinhaber der Schuhfabrik in Leicester, der vertraute Kreis einer Familie, an der er von ganzem Herzen hing: Dies alles lag unwiederbringlich hinter ihm. Vor ihm lag der Rand der zivilisierten Welt, eine gewaltige Eiswüste, die bei der geringsten Spur von Anmaßung seitens irgendeines Menschen, der es wagte, auf diesen eisigen Flächen einen Fußabdruck zu hinterlassen, sofort und erbarmungslos zuschlagen würde.
    Ein

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