Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
Vom Netzwerk:
sicherzustellen, dass er nicht taub geworden war. Er blickte aus dem kleinen verstaubten Fenster von Gregs Hütte auf die kolossale Weite der von einer weißen Hülle bedeckten Tundra hinaus. Er staunte über die vielen Farben, die Schnee haben konnte. Grün schimmernd unter einem mit Wolken bedeckten Himmel. Gespenstige Konturen in Blaugrau unter dem Sternenhimmel in den kurzen Sommernachtsstunden. Glühendes Goldrot beim Licht der Mitternachtssonne. Blendend, funkelnd, für das ungeschützte Auge kaum erträglich, wenn die Mittagssonne strahlte. Aber es war vor allem die immense, endlose Grabesstille, die ihn überwältigte und gleichzeitig erschreckte. Sie war unheimlich, Ehrfurcht gebietend. Als plötzlich das Summen von Ernie Boffas Motoren aus der Ferne hörbar wurde, war das ein Schock.
    Nach sechs unvergesslichen Tagen verabschiedete sich Jack von Greg Magnum mit einem herzlichen, festen Händedruck. Die kleine Norseman hob ab und flog direkt in das blendende Licht der Mitternachtssonne hinein. Jacks Ankunft in Coppermine fiel gerade in die längsten Tage des seltsamen Arktis-Kalenders. Dunkler als das Feuerrot der nicht untergehenden Sonne wurde es nicht. Bei diesem Flug reisten zu Jacks Erleichterung keine abenteuerlichen Passagiere mit, nur er allein, dieses Mal in zivilisierter Manier angeschnallt auf dem Sitz neben dem Piloten. Um ein Uhr nachts kam Jack endlich in Coppermine an, der kleinen Siedlung, die für die nächsten 19 Jahre seine Heimat werden sollte.

    Coppermine, heute mit der Inuitbezeichnung »Kugluktuk« (»Ort mit Stromschnellen«) benannt, war damals ein winziger Außenposten, der sich auf eine eisige Fläche zwischen den Ufern des Coppermine-Flusses und des »Coronation Gulf« des Polarmeers schmiegte, für Zeit und Ewigkeit in die Schneewehen der weißen Landschaft eingefroren. Diese Siedlung war die westlichste Gemeinde des Territoriums Nunavut, das auf der westlichen Seite an die »Northwest Territories« angrenzte und an der östlichen Seite an Grönland.
    Ursprünglich hieß der Ort »Fort Hearne« nach Samuel Hearne, dem ersten weißen Mann, der das Polarmeer erblickte und dem es gelungen war, in die Zentralarktis durchzudringen. Es hatte schon im 18. Jahrhundert Gerüchte gegeben, dass am Ufer eines großen Flusses in diesem unerreichbaren Teil des Landes Kupfer zu finden sei. Hearnes Ziel war es gewesen, nach diesem wertvollen Metall zu suchen und im Auftrag der »Hudson Bay Company« die Fühler für weitere Handelsmöglichkeiten auszustrecken. Weil Fort Hearne mit dem nicht weit entfernten Cape Hearne, auch nach dem berühmten Forscher genannt, zu oft verwechselt wurde, übernahm man den Namen des Flusses für die Siedlung. Kupfer wurde damals nur wenig gefunden, aber der Name blieb.
    Als der Pilot Ernie Boffa mit Jack an Bord an der Flussmündung aufsetzte, bestand die Siedlung aus ein paar wenigen Hütten, verstreut an der flachen Mündung des Flusses, dort, wo das Festland sich nach Norden hin bald in ein Gemisch von zahlreichen Inseln und Wasserwegen auflöste. Auf der einen Seite das Meer, auf der anderen Seite eine endlose Weite.
    Die Norseman zischte in einem schwindelerregenden Tempo über das Wasser Richtung Ufer und wurde von einem Empfangskomitee mit euphorischem Winken begrüßt. Die Nachricht des sich nähernden Flugzeugs hatte sich blitzschnell in der Siedlung verbreitet. Einmal im Monat, gute Wetterverhältnisse vorausgesetzt, landete die kleine Norseman entweder auf dem Eis oder dem Wasser des Coppermine-Flusses. Es war der einzige Motor, der in dieser eisigen Weite jemals zu hören war. Beim ersten fernen Summen des Triebwerks rannten die Dorfbewohner aus allen Richtungen zum Fluss. Die gesamte Bevölkerung Coppermines wartete am Ufer. Ein kurzer, freudiger Gedanke, ob sie wohl seinetwegen gekommen seien, schoss durch Jacks Kopf. Doch es folgte zugleich die Ernüchterung. Nicht um den neuen Pastor zu begrüßen waren die Menschen gekommen, sondern um die großen, blauen Postsäcke und die Kisten voller Vorräte in Empfang zu nehmen, auf die sie schon seit Wochen warteten.
    Eine herzliche, laute Stimme drang durch die neugierigen Blicke, mit denen Jack begrüßt wurde, als er aus dem Flieger stieg.
    »Endlich bist du hier! Herzlich willkommen, Jack Sperry!«
    »Canon Harold Webster! Nach so langer Zeit! Nie habe ich mich so gefreut, einen deftigen Lancashire-Dialekt zu Ohren zu bekommen!«
    Jack musterte den Nordengländer mit einem kurzen Blick und dachte, wie

Weitere Kostenlose Bücher