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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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Begriff, etwas auf einen Notizblock zu schreiben. Ihre Bibel lag aufgeschlagen neben ihr auf dem Bett. Jack warf ihr einen fragenden Blick zu, setzte sich schweigend neben sie und nahm ihre Hand in seine.
    »Wir gehen zurück«, sagte sie mit einer leisen und festen Stimme.
    »Bist du dir ganz sicher? Hat Gott zu dir gesprochen?«, fragte Jack.
    »Eben nicht«, antwortete sie. »Zumindest jetzt gerade nicht. Im Moment weiß ich nicht einmal, ob er noch da ist. Zu viel Schmerz. Aber gesprochen hat er. Damals, als er mir sagte: ›Wenn ich sage: Gehe, dann sollst du gehen, ohne zu zögern.‹ Und dann wieder vor drei Jahren, als wir uns kennenlernten. Ich sollte dir folgen, dich unterstützen, an deiner Seite den Eskimos dienen. Und dass er seine Meinung geändert hat, davon weiß ich nichts. Es gibt Arbeit zu tun, wir gehen zurück. Rufst du bitte den Herrn Chefarzt?«
    Sie duldete keinen Widerspruch.

    »Liebe Eltern,
letzte Woche verabschiedeten wir uns von eurem ersten Enkelkind. Der Geburtstag der kleinen Jacqueline war der 26. März. Zehn Stunden lang durften wir sie im Arm halten. Ihre Lungen waren zu schwach und gaben auf, und die Ärzte konnten nichts für sie tun. Ich wünschte, sie hätte die Möglichkeit gehabt, ihre wunderbaren Großeltern kennenzulernen.«
    Die einfühlsamen Worte, die Jack an seine Eltern und Schwiegereltern schrieb, konnten unmöglich dem Schmerz Ausdruck verleihen, mit dem Jack und Betty die Arbeit wieder aufnahmen, die sie in Coppermine so jäh hatten abbrechen müssen.
    Betty packte die bescheidenen Anfänge einer Babyausstattung wieder weg, die sie mit so viel Vorfreude gesammelt hatte. Oft lief sie orientierungslos von einem Zimmer ins andere und wieder zurück auf der instinktiven Suche nach dem Kind, das sie inzwischen an ihrer Brust, in ihren Armen getragen hätte. Ihr inneres Ohr lauschte umsonst nach dem Schrei eines erwachenden Babys. Das Gefühl der Leere im kleinen Missionshaus war unerträglich. Das einsetzende Frühlingswetter, auf das Betty sich so sehr gefreut hatte, machte die dumpfe Regungslosigkeit in ihrem Herzen nur noch deutlicher.
    »Dabei hat sich äußerlich gesehen nichts geändert, denn ich kannte diese kleine Person gar nicht«, schrieb sie in ihr Tagebuch, »und doch war sie ein Teil von mir. Sie kann nie ersetzt werden, auch durch weitere Kinder nicht. Es gehört wohl zum Vermächtnis dieser verlorenen Welt, dass wir mit unwiederbringlichen Verlusten leben lernen müssen. Vielleicht würden wir uns sonst auf dieser Erde zu wohlfühlen und hätten kein Bedürfnis, uns nach Gott auszustrecken.«
    Gesten des Mitgefühls ließen nicht lange auf sich warten. Manchmal klopfte eine Nachbarin an die Tür, trat schweigend in die kleine Wohnung und setzte sich. Saß einfach und trauerte mit. Dann ging sie wieder. Es waren mehr Besucher als vor dem Verlust des Babys. Eines hatten die Eskimos in ihrer gefrorenen Welt gelernt: Ausharren. Leid tragen. Das Leid anderer mittragen. Warten. Auf die Beute, auf das Getrampel der Karibus, auf die Sonne, auf die Erleichterung. Aus gegenseitiger Achtung war mitten im Leid auf einmal Liebe geworden.
    »Hallo, Martha, komm rein. Und wie geht es deinem kleinen Mädchen? Lass mich sie anschauen!« Betty unterdrückte einen Anflug von innerem Schmerz, als sie das Kind in ihre Arme schloss.
    »Es riecht so gut bei Ihnen, Mrs Sperry. Was machen Sie da?«
    »Ich backe einen Kuchen. Hier funktioniert der ›Victoria Sponge‹ fast so gut wie in England, auch ohne frische Eier. Soll ich es dir zeigen?«
    Am nächsten Tag standen zwei weitere Frauen an der Tür und wollten lernen, wie man einen »Victoria Sponge« macht. Noch mehr Frauen kamen dazu, neue Rezepte kamen dazu. Eine Frau zeigte Interesse an Bettys Strickzeug. Im Nähen und in der Arbeit mit Pelzen waren diese Frauen nicht zu übertreffen, aber stricken konnten sie nicht.
    Das war der bescheidene Anfang von Bettys »Mütterverein«.
    Es waren bald zu jeder Zeit irgendwelche Frauen im Missionshaus. Ihre Kinder brachten sie mit. Bald war das Haus jeden Tag voll mit dem Geplapper und Getrappel von kleinen Eskimos. Der Anfang einer Kinderarbeit.
    Es waren zaghafte, oft quälende Schritte zurück in die Normalität. Jacks erster längerer Reise zu den Siedlungen blickte Betty mit Grauen entgegen, verriet ihre Gefühle jedoch nicht.
    »Ich muss neue Pläne schmieden, wie ich durch jeden Tag hindurchkomme«, dachte sie.
    Die Mütter und Kinder brachten sie tagsüber schon jetzt auf

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