Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
erschien ihm die gähnende, weiße Ungeheuerlichkeit unter ihm so trostlos. Die schneebedeckten Flächen, die ansonsten ein Gefühl tiefer Ehrfurcht in ihm erweckten, schienen in diesem Moment die gnadenlose Härte der schlimmen Vorahnungen widerzuspiegeln, die seine Seele überschwemmten. Sollte sein Glück, das gerade begonnen hatte, nach nur einem Jahr zu Ende sein? Würde er seine Aufgabe nun als Vater eines mutterlosen Kindes weiterführen müssen?
Er rannte die Treppe zur Geburtsstation hoch und stürzte in den Raum, in dem Betty lag, kreidebleich, mit einem ausdruckslosen Blick vor sich hinstarrend. Ein winziges Bündelchen, in ein Tuch eingewickelt, lag still in ihrem Arm. Jack kniete sich hin und nahm beide in seinen Arm.
»Unsere Tochter«, flüsterte seine Frau mit tränenerstickter Stimme, »sie hat zehn Stunden lang gekämpft, heute Morgen hat sie aufgegeben. Ich darf sie bis heute Abend bei mir behalten.« Jack legte seinen Kopf an Bettys Schulter. Worte zwischen den untröstlichen verwaisten Eltern waren überflüssig.
Worte gab es später zuhauf, energische Worte vom verantwortlichen Chefarzt.
»Ihr zwei seid vollends von Sinnen, wenn ihr auch nur einen Gedanken daran verliert, wieder in dieses Niemandsland zurückzugehen«, fauchte er mit einem geringschätzigen Wackeln seines Kopfes.
»Praeklampsie ist ein schwangerschaftsbedingter Zustand, lebensgefährlich noch dazu, der auch in weiteren Schwangerschaften auftreten kann, und beim nächsten Mal kann es für Sie zu spät sein. Auch jetzt haben Sie Glück, bei diesem Blutdruck und bei diesen Leberwerten noch am Leben zu sein.« Er klopfte mit Nachdruck auf den Patientenbericht in seiner Hand. Über Schwangerschaftserkrankungen und deren Gefahren brauchte der Chefarzt Betty nicht aufzuklären.
»Mrs Sperry, es wäre in Ihrem prekären Zustand fahrlässig, ein Leben abseits medizinischer Versorgung zu verbringen, Schwangerschaften hin oder her. Sie haben eine gefährliche Anfälligkeit für hohen Blutdruck. Für Sie ist es mit der Arktis vorbei, wirklich. Suchen Sie sich hier im Süden eine nette Pfarrgemeinde in der Nähe eines guten Krankenhauses. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.«
Eine schweres, dumpfes Schweigen füllte den Raum. Jack fiel auf, wie unangenehm stark der sterile Geruch des Desinfektionsmittels war. Er verscheuchte flüchtige Visionen von warmherzigen, lachenden Eskimos, von endlosen Teerunden auf Kaributeppichen in Schneehäusern, vom klaren Sternenhimmel in eisiger, schwarzer Nacht, von atemberaubenden Sonnenuntergängen. Zwischen diese Bilder schob sich unwillkürlich die gespenstige Figur eines kleinen Mädchens mit blonden Locken, das wie Betty aussah. Sie suchte nach etwas in einem verlassenen Igludorf. Wieder nach der Puppe? Ein eisiger Winterwind wehte. Sie hatte keinen Parka an, ihre blonden Haare wehten wild um ihr verweintes Gesicht.
»Jetzt ist erst mal Betty dran«, dachte er, während er seine wirren Gedanken sammelte und sich räusperte.
»Danke für Ihre Hilfe, Sir. Ich glaube, wir brauchen etwas Zeit für uns.«
Für den Chefarzt war es ein Routinegespräch. Für seine Patientin und ihren Mann das erschreckende Ende eines langjährigen Traums, der so verheißungsvoll begonnen hatte.
»Irgendwelche Fragen?«, sagte der Arzt in einem etwas sanfteren Ton, nachdem er gemerkt hatte, welche Auswirkung sein Urteil auf seine Patientin und ihren Ehemann hatte.
Welche Worte Jack und Betty miteinander tauschten in den langen, intimen Gesprächen, die folgten, blieb ihr Geheimnis. Als Jack seine Frau zwei Tage später liebevoll über die Hand streichelte, sie küsste und aus dem Raum ging, um einen langen Spaziergang zu machen, wusste sie aber, dass er bereit war, alles aufzugeben, auch das Leben unter den Eskimos, das ihm so kostbar geworden war, um ihr Wohlbefinden zu sichern.
»Meine erste Verpflichtung vor Gott gilt dir, Betty. Und solltest du aufgrund deiner Gesundheit die geringsten Bedenken haben, zurück nach Coppermine zu gehen, dann suchen wir uns eine Pfarrgemeinde hier im Süden und nehmen diesen Schritt als Führung Gottes an. Du entscheidest, du allein.« Und dann verließ er sie für zwei Stunden, um ihr Zeit zum Beten zu geben und auf ihre Entscheidung zu warten.
Als er zurückkam, saß Betty auf der Bettkante. Sie hatte eine Strickjacke über ihr Nachthemd gezogen und ihre Reisetasche aus dem Schrank geholt. Mit wenigen Spuren von durchstandenen Weinkrämpfen im Gesicht war sie im
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