Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
der Minihitak darf ja nicht nass werden!«
Bei so vielen Körpern auf so wenig Raum hatte der Schnee oben am Dach des Iglus angefangen zu schmelzen. Aber auch für so einen Notfall war vorgesorgt. Von irgendwoher erschien eine Schaufel voll frischen Schnees. Der Gastgeber streckte sich nach oben und drückte den Schnee ohne viel Aufwand in das Loch. Nach einigem Hin und Her war das Problem behoben. Jack lächelte resigniert, schloss seine Bibel und sagte: »Lasst uns beten. Morgen machen wir weiter.«
Vor der Abfahrt der Besucher herrschte eine fröhliche Aufbruchstimmung in Tuktutuk. Das laute Geklapper von Hundegeschirr und -ketten, das Gewirr wedelnder Schwänze, herumrennende Kinder und Erwachsene, die Kisten und Säcke zum Schlitten trugen, sorgte für ein heilloses, geschäftiges Durcheinander. Plötzlich wurde alles von einem lauten Schrei übertönt. Die Silhouetten von zwei Männern, die etwas Schweres hinter sich herschleppten, erschienen in der Ferne.
»Sie haben eine Robbe, sie haben eine Robbe!«
Das Häuten und die Zerlegung einer Robbe hatte Jack schon öfters erlebt und ein paar Mal selbst durchgeführt. Trotzdem musste er schlucken, als unter dem Jubel des ganzen Dorfs ein scharfes Messer durch den Bauch des Tiers gezogen wurde und der Schnee nach und nach wie ein blutiges Schlachtfeld aussah. Alle staunten darüber, wie dick die Fettschicht der erlegten Robbe war. Fett bedeutete Wärme.
»Für sie bedeutet das volle Mägen für mindestens die nächste Woche«, dachte er.
Bei der Verteilung der Beute gab es eine klare Hierarchie. Die Jäger durften sich zuerst bedienen. Einer von ihnen kam strahlend auf Jack zu, mit einer blutigen Masse in der Hand, die er ihm stolz darreichte.
» Upatitkatik «, sagte er.
»Danke vielmals. Du hast mir eine große Ehre erwiesen«, erwiderte Jack.
» Upatitkatik « bedeutete »Teilhaber der Flossen«. An einem Teil dieser begehrten Kostbarkeit knabbern zu dürfen, galt als höchste Anerkennung.
Inzwischen standen die Kinder Schlange, jedes mit einem Keramikschälchen in der Hand, in das die Jäger stolz eine großzügige Portion Fett für die Lampen legten. Das Teilen von Beute war völlig selbstverständlich. Auch wenn sie mager war, bekam jede Familie einen Anteil daran.
Der Fellhandel mit der Hudson Bay Company hatte die Strapazen des Lebens in den Siedlungen seit einigen Jahren zwar gemildert. Metalltöpfe, Messer, Stahlnadeln, Streichhölzer, Tee, Schnüre für Dochte und vor allem Gewehre und Patronen erleichterten alltägliche Verrichtungen, die früher mühsam gewesen waren. Trotzdem lebte der alte Geist der gegenseitigen Abhängigkeit und des Miteinanderteilens unvermindert weiter.
»Bei so einer Feierlaune können wir nicht einfach losfahren«, sagte Alfred, »bleiben wir lieber noch ein bisschen.«
Rufe von »Natschektuluta!» (»Kommt und esst Robbe«) und »Teatugitti!« (»Kommt und trinkt Tee!«) ertönten bald aus zwei Schneehäusern. Jack und Alfred teilten sich auf, um den Robbenfang mit ihren Freunden zu feiern. Innerlich freute sich Jack schon darauf, neben dem Ofen im Komfort seines Missionshauses zu sitzen und seiner frisch vermählten Ehefrau »Teatugitti!« zuzurufen.
Tränen und Zweifel
Es ist die grausame Ironie des Lebens, dass ausgerechnet die Frau, die zahlreichen werdenden Müttern in ihrer Not beigestanden hatte und einigen von ihnen wie auch ihren Babys sogar das Leben rettete, um Haaresbreite die Geburt ihres eigenen Kindes nicht überlebt hätte. Schon ein Jahr nach der Hochzeit saß Betty in einem kleinen Flugzeug auf dem Weg ins Krankenhaus nach Edmonton. Ihr Blutdruck war gefährlich in die Höhe geschossen und sie sollte den Rest ihrer Schwangerschaft unter medizinischer Überwachung verbringen.
»Das kann nicht, darf nicht wahr sein«, schrie eine Stimme in Jacks Seele, als er wenige Tage später in den gleichen Flieger nach Edmonton stieg. Die Funknachricht, dass seine Frau in Lebensgefahr schwebte und er sich so schnell wie möglich an ihre Seite begeben sollte, war auf quälende Weise knapp und nichtssagend. Nach drei Jahren, in denen er in einem gewaltigen Kraftakt und zum Staunen all seiner Freunde die Anpassung an eine gefährliche Umgebung und eine fremde Kultur perfekt gemeistert hatte, landete ein erster Frontalangriff ausgerechnet dort, wo er am meisten wehtat: im engsten Kreis seiner Familie.
Würde Betty leben? Was war schiefgelaufen? Wie ging es dem Kind? Nie kam ihm eine Reise so lang vor, nie
Weitere Kostenlose Bücher