Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
flüsterte die Frau, die bisher mehr geweint als erzählt hatte, durch Tränen hindurch.
»Sie hieß Jacqueline«, antwortete Jack. »Ich durfte nie erleben, wie sie ihre ersten Schritte macht, ihre ersten Worte spricht. Genauso wie du, liebe Flossie, nie erleben wirst, wie deine Maria ihren ersten Schlitten führt oder ihr nie beibringen wirst, wie man einen Parka näht. Aber jetzt haben wir gemeinsam unsere kleinen Mädchen zurück in die Hände Gottes gelegt. Sie spielen jetzt schon auf Schlittenbahnen und Schneehügeln, wo es keine Tränen, kein Leid mehr gibt. Und bald, sehr bald, werden auch wir dorthinkommen. Bis dahin müssen wir, du und ich, tapfer sein und anderen in ihrem Leid helfen. Schau, hier kommt dein Ehemann.«
Der ozeanblaue Himmel, der über dem Meer strahlte, bildete einen starken Kontrast zu dem Elend, das Jack gerade hautnah erlebte. Die Tage wurden länger, eine Ahnung von Frühling hing schon in der Luft. Eissäulen ragten empor, verstreut über der Meeresfläche, bewegungslos, gigantisch wie strenge Wachmänner. Wie für alle Ewigkeit in eine erstarrte Landschaft eingefroren. Dazwischen Trümmer. Es war ein turbulentes »Freeze-up« gewesen. Er dachte an Hiroshima, seine Augen suchten instinktiv nach einer kleinen Familie, die nach verlorenen Schätzen suchte, seine Ohren warteten auf den Schrei des kleinen Mädchens, das seine Puppe gefunden hatte.
Bald würde sich die erste Eisplatte spalten und das Land würde sich wieder mit Leben füllen. Die Säulen und Trümmer würden von jetzt auf gleich weg sein, geschmolzen in einem rauschenden Frühlingserwachen, unter den Freudengesängen einer Auferstehung. Doch diese war nicht ewig, sondern genauso vergänglich wie alles andere im Leben.
Er seufzte, füllte seine Lunge ein letztes Mal mit der eiskalten Meeresluft und kehrte zum Schulhaus zurück.
Wandel
»Eines Tages wirst du dankbar sein, dass du so eine einzigartige Kindheit hattest, Angela.«
Mutter und Tochter standen am Ufer des Coppermine-Flusses. Betty blickte mit einem Hauch Schmerz in den Augen auf die atemberaubende Weite des still fließenden Wassers. Im Moment war der Anblick friedlich. An einem anderen Tag, bei anderen Wetterverhältnissen, wäre er wie verwandelt. Gespickt mit zackigen Eisgespenstern in der unheimlichen, frostigen Dämmerung eines Winterzwielichts. Schimmernd rot-gold unter einer Sonne, die nicht so richtig aufgehen wollte. Spiegelglatt und leuchtend weiß bei Vollmond. Brausend und sprudelnd zwischen grünen Ufern und unter einem blauen Himmel im Sommer. Wie ein Symbol für die Launen, die Hochs und Tiefs ihres eigenen Lebens.
»Kann sein, Mom. Ich liebe es hier, so ist es nicht. Aber ich möchte unbedingt auch etwas anderes kennenlernen, junge Leute treffen, die so ähnlich sind wie ich. Die Welt sehen, einkaufen gehen, Jungs begegnen.«
In der Familie Sperry herrschte Umbruchstimmung.
»Das wirst du auch bald, mein Kind. Aber ob es dir wirklich gefallen wird, da bin ich mir nicht sicher.«
Die neuen Geister, die das Eskimovolk plagten, kamen nicht nur in Form von Krankheiten. Zwei weitere hießen »Umweltverschmutzung« und »globale Erwärmung«. Der Klimawandel löste eine Kettenreaktion aus.
Karibuherden wanderten nicht mehr auf ihren gewohnten Routen. Wärmere Sommermonate brachten riesige Mückenschwärme mit sich. Dies führte dazu, dass die Herden schneller von Ort zu Ort weiterzogen und längere Strecken hinter sich bringen mussten. Die Weibchen konnten nicht genug Kräfte sammeln, um trächtig zu werden und Junge auf die Welt zu bringen. Dadurch wurde die Gefahr der Hungersnot für die Menschen, deren Leben vom zerbrechlichen Gleichgewicht in der Nahrungskette abhing, mit einem Schlag um ein Vielfaches größer.
Die kanadische Regierung hatte schon längere Zeit davor angefangen, der Welt zu beweisen, dass sie willig und auch in der Lage war, sich verantwortungsbewusst um ihre Ureinwohner zu kümmern und diese Aufgabe nicht nur, wie bisher, den Missionaren, den Händlern und der kanadischen Polizei zu überlassen. Iglubewohner wurden weiter in den Süden der Arktis in größere, zentral gelegene Siedlungen gelockt mit der Aussicht auf beheizte Häuser, Bildung, medizinische Hilfe und sonstige Vorteile der Moderne. Bald sollte der tägliche Kampf ums Überleben Vergangenheit sein wie auch die damit einhergehenden Künste des Jagens und Fischens.
Im Laufe der Fünfziger- und Sechzigerjahre hatte sich die westliche Zivilisation langsam,
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