Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
aber sicher ihren Weg bis an die Türschwelle der bis dahin vergessenen Länder gebahnt. Bis zum Ende der Sechzigerjahre hatte sich die Bevölkerung in Handelsstationen wie Coppermine mehr als verdreifacht.
Andere Entwicklungen kamen dazu. In den Jahren des Kalten Krieges galten bemannte russische Bomber, die die Route über den Nordpol nehmen könnten, als Hauptbedrohung für die Sicherheit der westlichen Welt. Die amerikanische Verteidigungsfront, »DEW« – »Distant Early Warning« genannt, verwandelte Teile der Barrenlands in eine große Baustelle. Junge Inuit waren begehrte Arbeitskräfte an diesen nördlichen militärischen Stützpunkten, waren sie doch das raue Klima und die harte Arbeit bei unmenschlichen Temperaturen gewohnt. Die DEW-Stützpunkte erforderten stabile Landebahnen für größere Maschinen. So wurde die Arktis mit Flughäfen und bald auch mit Linienflügen ausgestattet. Damit gehörte der »Tingmiak « , oder »Vogel«, wie das Flugzeug in allen Inuit-Dialekten genannt wurde, bald zum Alltag. Das Klirren von Hundegeschirren und die Rufe ihrer Führer wurden durch das Donnern von Flugzeugturbinen und das stakkatoartige Aufbrausen der Schlittenmotoren ersetzt. Die immense Stille des Schneepanoramas war für immer erschüttert. Das trauervolle Jaulen der Hunde nachts wurde nicht mehr gehört. Selbst die Wölfe zogen sich zurück und suchten sich ruhigere und sicherere Gefilde.
Es boten sich auf allen Seiten lukrative Beschäftigungen als Ersatz für die kräftezehrenden Jagdexpeditionen, die früher eine zentrale Rolle im Leben der Eskimos gespielt hatten. Nicht nur das US-Militär freute sich über den Einsatz einheimischer Kräfte. Erneute Versuche, um Coppermine herum nach Kupfer zu graben, durch die Einführung moderner Geräte erleichtert, boten jungen Inuit zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten. Goldminen waren im südlich gelegenen Yellowknife inzwischen gut etabliert. Diamanten wurden südlich von Coppermine entdeckt. Um die Inuit auch an Entscheidungsprozessen in den sich rasant entwickelnden Gebieten zu beteiligen, zog der Sitz der territorialen Regierung 1967 nach Yellowknife. Inuit-Männer und -Frauen ließen sich in Stadträte wählen und von der Nunavut-Regierung anstellen. Selbstbestimmung stand ganz oben auf der Agenda.
Damit brach im Eiltempo ein komplett anderer Lebensstil in das Familiengefüge der Inuit ein. Innerhalb von zwei Generationen verwandelte sich das Volk der Zentralarktis von einfachen Stämmen, die nichts von der Welt außerhalb der Grenzen ihrer Jagdreviere wussten, zu einem Volk, das die Verbindung zur modernen Welt mit allen Konsequenzen aufgenommen hatte. Fernseher, Telefone und später Internet gehörten zu ihrem Alltag. Essen, Kleider und Haushaltsutensilien kauften sie in modernen Geschäften. Sie machten ihren Führerschein und kauften sich Autos.
Die Kehrseite dieses rasanten Wandels ließ nicht lange auf sich warten. Nicht nur der Konsumrausch und der Zugang zu Bildung und medizinischer Hilfe erwiesen sich nach den Härten des Iglulebens als verlockende Genüsse. Die Verfügbarkeit von Drogen und Alkohol war genauso einschneidend und bot eine willkommene Lebensalternative für diejenigen, die keinen der begehrten Arbeitsplätze bei den Amerikanern oder in den Bergwerken ergatterten und auf der Strecke blieben. So wurde die medizinische Hilfe nun für Probleme in Anspruch genommen, die die Inuit in ihrer ursprünglichen Umgebung nicht gehabt hatten. Billiges Fastfood und Süßigkeiten aus dem Supermarkt verursachten mehr Zahnschäden als Karibufleisch und Fisch. Viele junge Inuit wurden Alkoholiker.
»Wir brauchen mehr Mitarbeiter«, schrieb Jack Anfang der Sechzigerjahre nach England. »Nicht mehr für die Reisen mit Hund und Schlitten, sondern um Familien zu betreuen, die durch die Umsiedlungen unter die Räder geraten sind. Wenn sie Alkoholiker sind, trinken sie alles, wirklich alles. Einige sind gestorben, weil sie Frostschutzmittel oder Rasierwasser getrunken haben. Es ist eine regelrechte Plage. Die Missionare der Zukunft müssen nicht mehr wetterfeste Abenteurer sein wie wir in unserer Generation. Sie müssen Menschen pastoral begleiten, die zwar materiell versorgt sind, aber ihren seelischen und geistlichen Kompass im Leben komplett verloren haben.«
Parallel zu diesen gesellschaftlichen Entwicklungen kündigten sich auch bei der Familie Sperry grundlegende Veränderungen an. Nachdem die Schule in Coppermine beendet war und dort keine
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