Am Rande Der Schatten
wurde entführt, meine Herren. Ich musste ihr einfach folgen. Die Stadtwache hat mich ein Stück begleitet, aber dann hat sie wieder kehrtgemacht. Ich fürchte, ich werde sie niemals einholen.«
»Es ist nur eine von diesen verdammten Schwestern, die ein Kind entführt hat«, sagte der jüngste Ritter. »In dem Brief stand …«
»Marcus!«, blaffte der ältere Ritter.
Die Männer sahen einander an, und Elene wurde klar, dass ihre Beinahe-Wahrheiten nicht nur funktioniert hatten, sondern dass sie noch etwas mehr wussten. Die Ritter zogen sich zurück und ließen den jungen Marcus stehen, der unbeholfen ihre Narben betrachtete. Dann begriff er, dass er sie anstarrte, und hüstelte in seine Hand.
Die älteren Ritter kehrten einige Minuten später zurück. Wieder ergriff der älteste das Wort: »Normalerweise würden wir Euch gern zum Unterlord bringen, damit Ihr ihm all das selbst erzählen könnt, aber ich kann erkennen, dass Zeit von größter Bedeutung ist. Tatsächlich würden wir Euch liebend gern begleiten, um zu helfen, aber unser Befehl verlangt von
uns, südlich von Torras Bend zu bleiben. Politik. Die Sache ist die, heute Morgen ist ein Bote aufgetaucht. Wir fangen alle Briefe von Chantry-Hexen ab. Nun. Wir haben bereits eine Kopie angefertigt.« Er reichte ihr einen Brief.
»Elene«, stand dort in einer geschwungenen, fließenden Handschrift zu lesen, »Uly ist jetzt in Sicherheit, ich habe sie aus dem Gewahrsam der Frau befreit, die sie Euch genommen hat, aber ich fürchte, ich kann sie nicht nach Hause schicken. Uly besitzt magisches Talent, und sie ist auf dem Weg in die Chantry, wo sie die beste Unterweisung auf der Welt und materielle Vorteile erhalten wird, die alles übersteigen, was Ihr ihr zu bieten hoffen könntet. Mir ist klar, dass Ihr keinen Grund habt zu glauben, dass dieser Brief von mir stammt. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr in die Chantry kommen, um Uly mit eigenen Augen zu sehen oder sie sogar mit nach Hause zu nehmen, sollte das Euer beider Wunsch sein. Sobald sie sicher in der Chantry eingetroffen ist, wird sie Euch schreiben. Ich entschuldige mich, und wenn nicht andere Dinge so drängend wären, würde ich Euch diese Nachricht selbst überbringen. Mit aufrichtigen Grüßen, Schwester Ariel Wyant Sa’fastae.«
Sie musste den Brief noch zwei weitere Mal lesen, bevor sie begreifen konnte, was er bedeutete. Jemand hatte Uly ihrer Entführerin entführt? Uly besaß magisches Talent?
Am Ende änderte der Brief gar nichts. Elene musste trotzdem nach Torras Bend reiten und herausfinden, was die Dorfbewohner wussten. Wenn der Brief der Wahrheit entsprach, würde sie nach Norden und weiter zur Chantry reiten müssen. Wenn nicht, würde sie sich auf den Weg nach Westen machen, nach Cenaria. Trotzdem, die Entführerin konnte nicht gewusst haben, dass Elene ihr folgte. Es war nicht so, als sei sie ihnen irgendwie näher gekommen.
»Verdammte Hexen«, sagte der junge Ritter. »Immer entführen sie kleine Mädchen und wenden sie ab vom Licht, um sie zu etwas zu machen, das größere Ähnlichkeit mit ihnen selbst hat.«
»Marcus!«
Elene war plötzlich erleichtert, dass sie diesen Männern die Wahrheit gesagt hatte. Wenn der Brief ihre Geschichte nicht bestätigt hätte, hätten die Dinge sich ganz anders entwickeln können. »Nein, es ist schon gut«, sagte sie. »Ich werde mich ungeheuer beeilen müssen, wenn ich hoffen will, Uly noch zu finden.«
»Seid vorsichtig«, mahnte der ältere Ritter. »Nicht all diese Dorfbewohner lieben das Licht.«
»Danke für Eure Hilfe«, sagte Elene. Dann ritt sie weiter auf Torras Bend zu, während sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen.
46
Wann immer Ariel etwas sah, das sie faszinierend oder verwirrend fand, besaß sie die seltsame Gabe, es sich einzuprägen. Das war während ihrer Studienzeit natürlich ein enormer Vorteil gewesen, denn sie war in der Lage, ganze Kapitel von Schriftrollen vor sich zu sehen und zu finden, was immer sie brauchte.
Jetzt studierte sie aufmerksam Vis und Ulys Gesichter: Vi verriet ungeteilten Jubel, eine Erregung, die vielleicht einzig daher rühren mochte, dass sie Tod sah. Ariel hoffte, dass es
das nicht war. Sie hoffte, dass mehr dahintersteckte, dass Vi einen persönlichen Grund hatte, Kylar tot sehen zu wollen. Wenn nicht, würde Vi vielleicht weniger nützlich sein, als sie gedacht hatte. Für den Augenblick ließ sie es dabei bewenden. Sie schob Vis Gesichtsausdruck beiseite, um ihn sich ein andermal genauer
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