Am Rande Der Schatten
anzusehen. Es war Ulys Gesichtsausdruck, der sie wahrhaft fesselte.
Kylar war für das Mädchen eine Vaterfigur gewesen. Uly war ein Kind mit weichem Herzen. Sie war nicht im Labyrinth aufgewachsen oder an einem anderen Ort, an dem sie alltäglich dem Tod begegnet war. Der Anblick ihres Adoptivvaters, dem seine Kleider geraubt worden waren und der tot am Straßenrand lag, hätte sie schockieren sollen. Sie sollte distanziert wirken oder es leugnen - aber sie war neugierig. Hatte sie ihn einfach noch nicht erkannt? Dann veränderte Ulys Gesichtsausdruck sich zu etwas, das Ariel für Glück hielt. Glück? Das konnte gewiss nicht richtig sein. Warum sollte das Mädchen glücklich sein?
Ariel wurde in ihren Überlegungen unterbrochen, als sie begriff, dass der Anblick des toten Kylar auch in ihr selbst Gefühle wachrief. Sie versuchte, sie so schnell wie möglich zu benennen, damit sie sie ablegen und sich wieder der gegenwärtigen Situation zuwenden konnte. Enttäuschung, ja. Sie hatte einen klugen Plan für Kylar gehabt, und jetzt würde er nicht funktionieren. Eine kleine Spur Trauer. Nach allem, was sie über Kylar wusste, war er die Art Mann gewesen, die sie gemocht hätte. Neugier, wie es möglich war, dass ein so fähiger Mann sich hatte töten lassen. Ein wenig Kummer über das, was Uly empfinden würde - gut, das reicht. Nachdem sie ihre Gefühle analysiert hatte, schob sie sie beiseite.
Uly blickte auf und sah, dass Ariel sie anstarrte. »Er ist nicht tot«, erklärte Uly. »Er ist nur verletzt.«
»Mädchen«, sagte Vi. »Ich habe eine Unmenge toter Menschen gesehen. Er ist tot.«
»Er wird sich erholen.«
Es klang so, als leugne sie den Tod ihres Ziehvaters, und Vi wertete es offensichtlich auch so, aber das war es nicht.
Schwester Ariel entrollte die geistige Schriftrolle, um den Ausdruck auf Ulys Gesicht zu untersuchen und seine Veränderung zu betrachten. Neugier, die zu Glück wurde. Uly sah, dass er tot war - seine Blässe verriet, dass er eine beträchtliche Zeit hier gelegen hatte, vielleicht einen Tag lang - aber Uly war nicht überrascht, und sie machte sich keine Sorgen. Warum? Glaubte sie wirklich, dass er sich erholen würde?
Schwester Ariel streckte ihre Magie aus und berührte Kylar, und die Erkenntnis schlug über ihr zusammen - nein, sie wälzte sich über sie hinweg wie eine drei Meter hohe Welle und ließ sie atemlos zurück.
Ihre Magie wurde aus der Luft in Kylars Körper hineingezogen, wurde auf hundert verschiedene Arten kanalisiert, um den Heilungsprozess zu beschleunigen, der bereits in ihm im Gange war.
Die Magie hätte sie verblüfft. Die Magie im Verein mit Ulys Gesichtsausdruck, der besagte, dass sie dies schon früher gesehen hatte und glücklich darüber war - das verriet ihr alles.
Kylar war ein Geschöpf der Legende. Einer Legende, an die keine Schwester glaubte. Bis jetzt.
»Du hast recht, Uly«, sagte Schwester Ariel sanft und sah Vi in die Augen, als wolle sie sie bitten »mitzuspielen«. »Wie wär’s, wenn wir unser Lager aufschlagen würden, und
du kannst unser Abendessen vorbereiten, während Vi und ich uns um seine Wunden kümmern? Sie und ich verstehen mehr vom Heilen, und du kannst dafür sorgen, dass das Abendessen für ihn bereitsteht, wenn er aufwacht.«
Ariel saß ab und half Uly aus dem Sattel.
»Ich will nicht gehen. Ich will hierbleiben«, protestierte Uly.
»Uly«, sagte Vi. »Du kannst ihm am besten dadurch helfen, dass du das Abendessen zubereitest. Hier wirst du nur im Weg sein.«
»Komm, Kind«, sagte Ariel. Sie führte Uly davon, während Vi von ihrem Pferd stieg und begann, Blätter von Kylars Körper zu ziehen. Ariel drehte sich um und formte mit den Lippen die Worte »Fang an zu graben«. Vi nickte.
Wenn sie Zeit zum Nachdenken gehabt hätte, hätte Ariel nicht so ein verzweifeltes Spiel gespielt. Tausend Faktoren waren im Spiel, einem Spiel, das zu schnell gespielt wurde, als dass sie die Chancen genauer hätte berechnen können.
Sie führte Uly etwa zwanzig Schritt in den Wald hinein, dann fesselte und knebelte sie sie mit Magie und setzte sie auf die gegenüberliegende Seite eines Baumstamms. »Es tut mir leid, Kind. Es ist das Beste so.«
»Mmm!«, machte Uly mit weit aufgerissenen Augen, aber der Laut war weniger als ein Flüstern.
Ariel kam gerade rechtzeitig um den Baum herum, um zu sehen, wie Vi sich auf ihr Pferd schwang und in den Wald davongaloppierte. Ariel schrie und warf einen Ball aus Licht, der an Vi vorbeizischte,
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