Am Rande Der Schatten
Jahrzehnten drohte Schwester Ariel von einem Mann Gefahr.
»Ich will dir helfen, wenn deine Sache eine gerechte ist«, sagte sie.
»Ihr meint, falls ich Euch meinerseits helfen werde?«
Sie zuckte die Achseln und zwang sich zur Ruhe. »Wie weit reichen deine Kräfte, junger Mann? Weißt du es überhaupt?«
»Warum sollte ich es Euch verraten?«
»Weil ich bereits weiß, dass du tatsächlich Kylar bist. Du bist der Mörder, der ermordet wird. Der unsterbliche Sterber. Wie ist dein richtiger Name? Wie bist du zu dieser Macht gekommen? Wurdest du damit geboren? Was siehst du, wenn du tot bist?«
»Ich hätte Euch meinen Namen nicht nennen sollen, nicht wahr? Ihr übermäßig gebildeten Leute werdet noch mein Tod sein. Oder zumindest mein Verderben.«
Nachdem sie gesehen hatte, wie die Heilung funktionierte, wusste Ariel, dass die Hülle dieses Mannes, sein Körper, sich nicht verändern würde, dass sie in tausend Jahren nicht altern würde. Kylar mochte jahrhundertealt sein, aber ganz gleich,
wie sie ihn betrachtete, sie sah hinter diesen kühlen blauen Augen einen jungen Mann. Die Prahlerei eines jungen Mannes, die Unbesiegbarkeit eines jungen Mannes. Er hatte gewiss die Torheit eines jungen Mannes an den Tag gelegt, indem er ihr bereits so viel erzählt hatte. »Wie alt bist du?«, fragte sie.
Er zuckte die Achseln. »Zwanzig, einundzwanzig.«
»Dann befindet sich die Gesellschaft also im Irrtum?«
»Die Gesellschaft?«, wiederholte Kylar.
Verflixt. Wie kann ich bei Vi so subtil sein und so unbeholfen bei diesem Jungen? Sie kannte den Grund jedoch. Sie war es nicht gewohnt, mit Männern umzugehen. Sie hatte zu viel Zeit in klösterlicher Gemeinschaft von Frauen verbracht. Frauen verstand sie. Selbst wenn sie entsetzlich unlogisch sein konnten, hatte sie über die Jahre hinweg doch gelernt einzuschätzen, wann diese Unlogik sich bemerkbar machen würde. Männer waren eine ganz andere Angelegenheit. Es wäre, nun ja, logisch gewesen, dass sie sich in der Gesellschaft von Männern wohler gefühlt hätte, aber das war nicht der Fall. Trotzdem verriet ihr jedes von Kylars Worten ungeheuer viel. Er hatte in Bezug auf sein Alter nicht gelogen. Es fühlte sich wahr an - aber wer kannte sein genaues Alter nicht? Lag es daran, dass er sich nicht daran erinnern konnte, wie lange er schon in dieser Inkarnation lebte? Sie hatte das Gefühl, dass es etwas anderes sein musste. Trotzdem, sie hätte nichts über die Gesellschaft sagen sollen. Jetzt würde sie ihm mehr erzählen müssen. Wenn sie sich weigerte, das zu tun, würde er es genauso halten.
»›Siehe, die lange Nacht vergeht, und er ist neu erschaffen.‹ Diese Gesellschaft«, sagte sie. Kylar rieb sich die Augen, als fühlten sie sich merkwürdig an. Er wirkte überwältigt, was gut war, denn sie wollte nicht erklären, woher sie von der Gesellschaft wusste. »Sie glauben, man kommt von den Toten
zurück, und sie hoffen, in Erfahrung zu bringen, wie. Anscheinend ist ihr Glaube gerechtfertigt. Und was mehr könnte ein Mann sich erhoffen, als den Tod zu besiegen?«
»Eine Menge«, blaffte Kylar. »Ich bin unsterblich, nicht unbesiegbar. Es ist nicht immer ein Segen.« Er war noch immer desorientiert. Er sah aus, als bedaure er jedes Wort, das er sagte. Außerdem war der junge Mann nicht dumm. Verwegen vielleicht, aber nicht dumm. »Also, Schwester, was habt Ihr mit mir vor? Mich in Ketten legen und zur Chantry bringen?«
Während er das sagte, spannen seine Worte eine Fantasie für Ariel. Was für eine Versuchung! Oh, sie würde niemals versuchen, ihn mit Magie zu fesseln. Aber sie hatte etwas Besseres als Magie. Sie hatte Uly. Einige Lügen darüber, dass Uly sterben werde, wenn sie nicht sofort zur Chantry gebracht wurde, ein subtiler Zauber, damit Uly sich einige Male übergab, und Kylar würde aus eigenem Antrieb mit ihr kommen. Kylars Existenz würde den meisten Mitgliedern der Schwesternschaft verborgen bleiben. Einzig Istariel würde von ihm erfahren. Ariel wollte den Mann studieren.
Oh, was für eine Herausforderung! Das reine intellektuelle Rätsel. Das Ausmaß der magischen Komplexität! Es war berauschend. Sie würde Teil von etwas Großem sein. Kylar würde kein schlechtes Leben führen. Sie würden ihn mit allem versorgen, worum er bat. Das beste Essen, das beste Quartier, Training mit den Schwertmeistern, Besuche bei Uly, was auch immer sie ihm an Unterhaltung bieten konnten, und zweifellos würden sie neugierig sein, ihn sich mit Schwestern
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