Am Rande Der Schatten
flüsterte Daydra.
Kaldrosa öffnete das kleine Sichtfenster, und da stand er. Tomman sah sie, und seine Miene hellte sich auf. »Du lebst! Oh, Götter, Kaldrosa, ich dachte, du wärst vielleicht tot. Was ist los? Lass mich rein.«
Der Riegel schien sich von selbst anzuheben. Kaldrosa war hilflos. Die Tür wurde aufgestoßen, und Tomman riss sie in seine Arme.
»Oh, Kally«, sagte er, immer noch im Glückstaumel. Tomman war stets ein wenig langsam gewesen. »Ich wusste nicht, ob …«
Erst jetzt bemerkte er die anderen Frauen im Raum, deren Gesichter entweder Freude oder Eifersucht zeigten. Obwohl er sie umarmte und sie sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste Kaldrosa, dass er beim Anblick so vieler schöner, exotischer Frauen, die allesamt kaum etwas am Leibe trugen, töricht blinzeln würde. Selbst Daydras jungfräuliches Kleid atmete Sinnlichkeit. Seine Umarmung versteifte sich langsam, und Kaldrosa erschlaffte in seinen Armen.
Tomman trat zurück und sah sie an. Seine Hände fielen von ihren Schultern wie ein Fisch aufs Deck.
Es war wirklich ein schönes Kostüm. Kaldrosa hatte ihre magere Figur stets gehasst; sie fand, dass sie aussah wie ein Knabe. In diesem Gewand fühlte sie sich nicht mager oder knabenhaft - sie fühlte sich hübsch und erotisch. Die an der Vorderseite offene Bluse offenbarte nicht nur, dass sie bis zur
Taille gebräunt war, sie entblößte auch die Hälfte einer jeden Brust. Die skandalöse Hose passte wie ein Handschuh.
Kurzum, es war genau die Art von Gewand, in dem Tomman Kaldrosa in ihrem Heim liebend gern gesehen hätte - für die kurze Zeit, die verging, nachdem sie ihn darin überrascht hatte und er sie einfing, nachdem er sie durchs Haus gejagt hatte.
Aber dies war nicht ihr Heim, und diese Kleider waren nicht für Tomman bestimmt. Trauer trat in seine Augen. Er wandte den Blick ab.
Die Mädchen wurden sehr still.
Nach einem quälenden Augenblick sagte er: »Du bist schön.« Dann versagte ihm die Stimme, und Tränen rannen ihm übers Gesicht.
»Tomman …« Sie weinte ebenfalls und versuchte, sich mit den Armen zu bedecken. Es war eine bittere Ironie. Sie versuchte, sich vor den Augen ihres Ehemanns zu bedecken, obwohl sie sich für Fremde, die sie verachtete, zur Schau gestellt hatte.
»Mit wie vielen Männern warst du zusammen?«, fragte er erstickt.
»Sie hätten dich getötet …«
»Jetzt bin ich also nicht Manns genug?«, blaffte er. Er weinte inzwischen nicht mehr. Er war immer tapfer gewesen, wild. Es war eins der Dinge, die sie an ihm liebte. Er wäre gestorben, um sie vor dem hier zu retten. Er hatte nie begriffen, dass er gestorben wäre, und dann hätte sie dies trotzdem tun müssen.
»Sie haben mich geschlagen«, sagte sie.
»Wie viele?« Seine Stimme war hart, brüchig.
»Ich weiß es nicht.« Ein Teil von ihr wusste, dass er wie ein vor Schmerz wahnsinniger Hund war, der nach seinem Herrn
schnappte. Aber der Ekel auf seinem Gesicht war zu viel. Sie war ekelhaft. Sie ergab sich der Leere und der Verzweiflung. »Viele. Neun oder zehn am Tag.«
Sein Gesicht verzerrte sich, und er wandte sich ab.
»Tomman, verlass mich nicht. Bitte.«
Er blieb stehen, doch er drehte sich nicht um. Dann ging er hinaus.
Als die Tür sanft hinter ihm zufiel, begann sie schrill zu weinen. Die anderen Mädchen kamen zu ihr, ihre Herzen von neuem gebrochen, während Kaldrosas Trauer ihre eigene Trauer widerspiegelte. In dem Wissen, dass sie sich nicht trösten lassen würde, gingen sie zu ihr, weil sie sonst niemanden hatte, der es tun würde, genauso wenig wie sie selbst jemanden hatten.
56
Momma K trat gerade in das Haus der Bader, als Kylar das Schwert an sich riss, aber sie kam zu spät, um ihn aufzuhalten.
Vi bewegte sich nicht. Sie kniete reglos da, das glänzende rote Haar zur Seite gezogen, um den Weg für das Schwert freizumachen. Die Klinge senkte sich herunter - und prallte ab. Beim Schock des Zusammenstoßes klirrte das Schwert wie eine Glocke. Dann entfiel es Kylars kraftlosem Griff.
»Ihr werdet in meinem Haus keinen Mord begehen«, sagte Drissa Nile. Ihre Stimme war von solcher Macht und ihr Blick von solchem Feuer, dass ihre winzige Gestalt geradeso gut die
eines Riesen hätte sein können. Obwohl Kylar den Blick senken musste, um ihr in die Augen zu sehen, war er eingeschüchtert. »Wir haben an dieser Frau eine hervorragende Leistung in puncto Heilkunst vollbracht, und Ihr werdet das nicht verderben«, fügte Drissa hinzu.
»Ihr habt sie geheilt?«,
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