Am Rande Der Schatten
Watanabe. Als der Regent ihm dann befahl, seine Einheit aufzulösen, war er stattdessen zum Söldner geworden. Verzweifelte Männer scharten sich aus einem einzigen Grund unter seinem Banner: Er verlor niemals.
Der Riese wurde zu einem Punkt in der Ferne.
»Kriegsmeister, wünscht Ihr, dass wir ihm folgen?«, fragte ein Stumpen von einem Mann, an dessen bereits spärlich werdendes Haar ungefähr zwanzig Locken gebunden waren.
»Wir werden es durch die Höhlen versuchen«, sagte Lantano.
»Wir gehen nach Cenaria?«
»Nur hundert Sa’ceurai. Es wird ein kalter Winter sein. Das Töten dieses Riesen wird uns mit einer Geschichte versorgen, die uns warm hält.«
57
Momma K wollte, dass Agon und seine Armee Logan ins Rebellenlager brachten. Wenn er König werden sollte, brauchte er eine Armee. Kylar weigerte sich, seinen Freund zu verlassen, zumindest bis Logan bei Bewusstsein war. Als Kylar ohnmächtig wurde, fragte Agon Momma K, ob sie Logan in den Wagen laden sollten. Momma K fluchte und zürnte, doch sie sagte nein.
Niemand fragte Vi nach ihrer Meinung. Sie war es zufrieden. Sie wollte wiedergutmachen, was sie getan hatte, aber sie wollte nicht nachdenken.
Noch während sie mit Kylar, Momma K und Agon dasaß, drängte ein Teil von ihr sie, sie zu töten. Der Gottkönig entlohnte jene, die ihm dienten, gut. Sie könnte binnen einer einzigen Minute die größten Bedrohungen für die Herrschaft des Gottkönigs auslöschen.
Sie gehorchte diesem Gedanken nicht. Sie war für unschuldig erklärt worden. Sie war vollkommen rein geworden.
Beinahe. Erst spät hatte sie begriffen, dass das Schlimmste, was sie Kylar angetan hatte, vielleicht etwas war, das ihr zu jener Zeit nichtig erschienen war, eine kleine Geste der Verachtung. Sie hatte den Brief und die Ohrringe eingesteckt, die Kylar für Elene dagelassen hatte.
Erst heute hatte sie erfahren, dass es Eheringe waren. Drissa und Tevor hatten ihr die Sitte ausführlich erklärt. Indem Vi die Ringe und den Brief gestohlen hatte, hatte sie Elene alles genommen.
Sie war nicht mutig genug gewesen, um Kylar davon zu erzählen, nicht wahr?
Es war einfach zu viel Wahrheit. Sie hätte akzeptieren können, wenn Kylar sie tötete, aber sie wusste nicht, was sie tun sollte, wenn Kylar sie verachtete. Wenn er sie kannte, würde er sie verachten. Es war unmöglich, dass Liebe so viel überwinden konnte.
Liebe? Was denke ich mir nur dabei? Beschränke dich aufs Kämpfen und Ficken, Vi. Beides kannst du gut.
Die Tür eines Behandlungsraums wurde geöffnet, und Kylar kam herein. Logan trat aus einem anderen Raum.
Zum ersten Mal sah Vi Kylar lächeln. Es bewirkte etwas
Seltsames in ihr, wenn er so lächelte - und dabei sah er sie nicht einmal an. Er machte eine tiefe Verbeugung. »Majestät«, sagte Kylar.
»Mein Freund«, erwiderte Logan. Er war qualvoll dünn, und seine Knochen zeichneten sich scharf unter seiner Haut ab. Trotzdem besaß er eine unverkennbare Aura von strahlender Gesundheit. Wieder kostbar gewandet, sah er trotz seines Martyriums gut aus. Er überwand die Entfernung sehr schnell und umarmte Kylar.
»Es tut mir leid«, sagte Kylar. »Ich bin in jener Nacht zu spät gekommen. Ich habe Blut gefunden und gedacht … Es tut mir so leid.«
Logan drückte Kylar stumm an sich und atmete schwer. Schließlich trat er zurück und hielt Kylar an den Schultern fest.
»Du hast deine Sache so gut gemacht, mein Freund. Ich bin derjenige, dem es leidtut. Es tut mir leid, dass ich je an dir gezweifelt habe. Wir werden eines nicht allzu fernen Tages reden müssen. Du … du hast dort unten einige Dinge getan, die …« Logan blickte sich um, wissend, dass sie nicht allein waren. »Dinge, die mich wirklich neugierig machen. Und ich habe anscheinend Löcher in meinem Gedächtnis, wie zum Beispiel die Frage betreffend, wie ich mir dies hier zugezogen habe.«
Er zog seinen Ärmel zurück, und Vi und Momma K schnappten nach Luft. Eingesunken in seinen Arm war etwas wie eine leuchtende, silbrig-grüne Tätowierung. Er zeigte ihnen nicht die ganze Tätowierung, aber für Vi sahen die Linien stilisiert und abstrakt aus, nicht willkürlich.
»Euer Majestät«, sagte Drissa Nile. »Ich wäre … sehr vorsichtig damit, dies vorzuzeigen.«
»Es tut mir leid, wenn ich Euch bedränge«, fiel Momma K ein, »aber wir müssen einige Entscheidungen treffen.«
»Ihr meint, ich muss einige Entscheidungen treffen«, sagte Logan lächelnd.
»Ja, Euer Majestät, vergebt mir.«
Als Erstes
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