Am Rande Der Schatten
stieß sie auf keinerlei Patrouillen, bis sie zu den vier Soldaten kam, die die Haupttüren zum Thronsaal bewachten. Die Männer musterten sie ungläubig. Sie schienen ihre Waffen zu vergessen, als ihre Blicke genau dort verweilten, wo sie verweilen sollten.
»Teil dem Gottkönig mit, dass Vi Sovari gekommen ist, um sich ihren Lohn abzuholen.«
»Der Gottkönig darf nicht gestört werden, es sei denn …«
»Dies ist wichtig«, zischte Vi den Mann an, wobei sie sich zuerst vorbeugte, bis seine Augen praktisch auf ihrem Ausschnitt klebten. Dann drückte sie sein Kinn mit dem Messer hoch, das wie aus dem Nichts in ihrer Hand erschienen war. Er schluckte.
»Ja, meine Dame.«
Der Wachmann öffnete die großen Doppeltüren. »Gott, unser Gott der Hohen Reiche, Euer Heiligkeit, Vi Sovari bittet um Eintritt.«
Der Wachmann trat beiseite und gab ihr ein Zeichen. »Viel Glück«, flüsterte er mit einem entschuldigenden Lächeln. Der Bastard. Wie konnte er es wagen, menschlich zu sein?
Kylar, der im letzten Flur stand, hielt sich den Ka’kari vor die Augen. Er sah keine magischen Alarmvorrichtungen. Unsichtbar bewegte er sich auf die Tür zu. Die Angeln waren gut geölt.
»Komm herein, komm herein, Viridiana«, hörte er den Gottkönig sagen. »Wir haben uns zu lange nicht gesehen. Ich hatte schon befürchtet, dass ich den Tod von zehntausend Rebellen ganz allein würde genießen müssen.«
Kylar drückte die Tür einen Spaltbreit auf, während der Gottkönig sprach, und als der Mann das zugegebenermaßen beeindruckende Bild von Vi in ihrer Version von Blutjungenroben in sich aufnahm, stahl Kylar sich in den Thronsaal. Er schlüpfte hinter eine der riesigen Säulen, die die Decke trugen. Der Dienstboteneingang, den er benutzt hatte, öffnete sich in der Nähe des Fußes der vierzehn Stufen messenden Treppe zum Podest. Ursuul saß oben an der Treppe auf seinem schwarzen Feuerglasthron.
In der Mitte des gewaltigen Raumes befand sich eine gewellte Ebene am Fuß der Berge. Zu beiden Seiten der Ebene waren winzige Gestalten, die sich im Gleichklang bewegten. Kylar begriff, dass es Miniaturarmeen waren, die im Licht der frühen Morgendämmerung Aufstellung nahmen. Es war kein Gemälde und auch keine Stickerei von einer Schlacht; es war eine Schlacht. Fünfzehntausend unendlich winzige Gestalten schritten über die Ebene. Kylar konnte sogar Banner der Adelshäuser ausmachen. Die cenarischen Linien formierten sich und folgten … Logan? Logan führte den Angriff an? Wahnsinn! Wie konnte Agon das zulassen?
Die großen Türen schlossen sich hinter Vi, während der Gottkönig ihr bedeutete, näher zu treten. Kylar hatte den Mann noch nie gesehen oder auch nur Beschreibungen von ihm gehört. Er hatte jemand Altes und Hinfälliges erwartet, aufgedunsen oder in sich zusammengesunken von einem Leben für das Böse, aber Garoth Ursuul erfreute sich bester Gesundheit. Er war vielleicht fünfzig, sah mindestens
zehn Jahre jünger aus, und obwohl er den dicken Leib und die kühle Haut eines khalidorischen Hochländers hatte, hatte er die Arme eines Kämpfers, ein hageres Gesicht mit einem geölten, schwarzen Bart und einen kahl rasierten, glänzenden Schädel. Er sah aus wie die Art Mann, die einem mit festem Griff die Hand schüttelte, und man würde dabei feststellen, dass seine Finger schwielig waren.
»Achte nicht auf die Schlacht«, sagte der Gottkönig. »Du kannst hindurchgehen; es wird die Magie nicht beschädigen, aber mach schnell. Die Rebellen werden gleich angreifen. Den Teil mag ich am liebsten.«
Durch den Ka’kari betrachtet war Garoth Ursuul jedoch ein Miasma. Verzerrte, schreiende Gesichter strömten hinter ihm her wie eine Wolke. All seine Morde bildeten eine so dicke Schicht auf seinem Antlitz, dass es seine Züge verbarg. Verrat, Vergewaltigungen und beiläufige Folterungen schlangen sich um seine Gliedmaßen. Gefädelt durch all das waren, wie giftiger grüner Rauch, die Vir. Irgendwie nährte er sich von all dieser Dunkelheit und vertiefte sie, und er war so mächtig, dass er den Raum auszufüllen schien.
Während Kylar hinter der Säule stand, bemerkte er eine kleine Gruppe winziger Männer, die einen Meter von ihm entfernt kämpften. Abseits des eigentlichen Schlachtfelds befand sich ein hochgewachsener Mann, den vier khalidorische Lanzenträger niederzureiten drohten.
Nur dass der Mann nicht niedergeritten wurde. Binnen Sekunden tötete er drei Lanzenträger. Er hatte etwas Vertrautes. Feir
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