Am Rande Der Schatten
mehr Sprachen, als mir überhaupt bekannt sind - mindestens dreißig, Dialekte nicht mitgerechnet -, und sie alle so fließend, dass Muttersprachler keinen Akzent wahrnehmen konnten. Es gab Zeiten, da er für zwanzig oder sogar fünfzig Jahre verschwand - wir wissen nicht, ob er in diesen Phasen in Einsamkeit lebte oder verheiratet war oder sich in entlegenen Regionen niedergelassen hatte. Aber er erschien sechs Jahrhunderte lang bei jedem bedeutenden Konflikt und nicht immer auf der Seite, die man erwartet hätte. Vor zweihundert Jahren kämpfte er als Hrothan Stahlbeuger bei den alitaerischen Eroberungsfeldzügen während der ersten dreißig
Jahre des Hundertjährigen Krieges, dann ›starb‹ er und kämpfte als der Schwertheilige Oturo Kenji mit den Ceuranern gegen sie.«
Jetzt war es Kylar, der zitterte. Er erinnerte sich an den Tag, an dem seine Gilde versucht hatte, Durzo zu überfallen. Als sie gesehen hatten, wer er war, waren sie vor dem legendären Blutjungen zurückgewichen. Legendärer Blutjunge! Wie wenig sie doch gewusst hatten. Wie wenig Kylar gewusst hatte. Ein unvernünftiger Stich des Grolls durchzuckte ihn.
Wie hatte Durzo ihm das verschweigen können? Er war für den Mann wie ein Sohn gewesen. Er hatte ihm nähergestanden als irgendjemand sonst - und er hatte Kylar rein gar nichts erzählt. Kylar hatte nur eine bittere, abergläubische Hülle von einem Mann gesehen und sich ihm irgendwie überlegen gefühlt.
Kylar hatte Durzo Blint überhaupt nicht gekannt. Und jetzt war der Held der Legenden - der Held Dutzender Legenden - tot. Gestorben durch Kylars Hand. Kylar hatte etwas vernichtet, ohne seinen Wert zu kennen. Er hatte den Mann, den er seinen Meister genannt hatte, nicht gekannt, und nun würde er ihn auch niemals kennenlernen. Es fühlte sich an wie ein Loch in seinem Magen. Er fühlte sich taub und abwesend und wütend und war gleichzeitig den Tränen nahe. Durzo war tot, und Kylar vermisste ihn mehr, als er es sich jemals hätte vorstellen können.
Die Schweißperlen zeichneten sich jetzt deutlich sichtbar auf Aristarchos’ Gesicht ab. Er hatte die Bettlaken in seinen Fäusten zerknüllt. »Wenn Ihr irgendwelche Fragen in Bezug auf seine Inkarnationen oder Eure habt oder irgendetwas anderes, dann stellt sie bitte schnell. Ich … fühle mich nicht wohl.«
»Warum sprecht Ihr immer von Inkarnationen, als sei ich eine Art Gott?« Es war keine großartige Frage, aber die wirklichen Fragen waren so gewaltig, dass Kylar nicht einmal wusste, wie er sie stellen sollte.
»Ihr werdet in einigen entlegenen Gegenden, in denen Euer Meister nicht besonders vorsichtig dabei war, das volle Ausmaß seiner Kräfte zu zeigen, verehrt.«
»Was?!«
»Die Gesellschaft spricht von Inkarnationen, weil ›Leben‹ zu verwirrend ist, und wir sind uns nicht sicher, ob Ihr so viele Leben habt, wie Ihr wollt, oder eine endliche Anzahl oder nur ein einziges Leben, das niemals endet. Niemand von uns hat Euch jemals wirklich sterben sehen. Der Ausdruck ›Inkarnationen‹ hat ebenfalls seine Kritiker, aber diese finden sich größtenteils unter den modainischen Separatisten, die an Reinkarnation glauben. Lasst Euch von mir gesagt sein, Eure Existenz stürzt sie wirklich in ein theologisches Durcheinander.« Aristarchos’ Beine zuckten beinahe krampfhaft. »Es tut mir leid«, sagte er, »es gibt so vieles, was ich Euch gern erzählen würde. So vieles, von dem ich mir wünschte, dass ich danach fragen könnte.«
Plötzlich sah Kylar unter all den großen Fragen in Bezug auf Durzo, in Bezug auf seine eigenen Kräfte, in Bezug auf den Gottkönig und darauf, was er wusste oder zu wissen glaubte, nur einen schwitzenden Mann auf einem Bett, einen Mann, der um Kylars willen seine Zähne und sein gutes Aussehen verloren hatte, einen Mann, der gefoltert worden und zum Süchtigen gemacht worden war, der gezwungen worden war zu versuchen, Kylar zu töten, und der mit allem, was er hatte, dagegen angekämpft hatte. All das hatte er für einen Mann getan, den er nicht einmal kannte.
Also fragte Kylar nicht nach der Gesellschaft oder nach Magie oder danach, was Aristarchos für ihn tun könne. Das konnte später kommen, wenn sie beide so lange lebten. »Aristarchos«, sagte er, »was ist ein Shalakroi?«
Der Mann war auf diese Frage nicht gefasst gewesen. »Ich - es ist ein wenig unter einem midcyrischen Herzog, aber es ist keine erbliche Position. Ich habe bei den Prüfungen besser abgeschnitten als zehntausend andere
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