Am Rande Der Schatten
Er konnte auch andere Dinge nicht erwarten. Kopfschüttelnd wandte er sich wieder dem Herd zu. Im Gegensatz zu dem, was er gesagt hatte, war die Mahlzeit nicht schwer zuzubereiten. Es war nur eine Schweinerei. Er zog seinen Ring vom Finger und legte ihn auf die Theke, bevor er das rohe
Fleisch ergriff - es hatte nichts Romantisches, zu riechen wie eine tote Kuh.
Elene, Uly und Tante Mea waren erst etwa dreißig Sekunden fort, als es an der Tür klopfte. Kylar legte den Pfannenheber wieder hin und ging zur Tür. »Was hast du diesmal vergessen, Uly?«, fragte er, während er sich ein Handtuch schnappte und die Tür öffnete.
Es war Jarl.
Kylar hatte das Gefühl, als entweiche alle Luft aus seiner Lunge. Er wollte seinen Augen nicht trauen. Aber da stand er, hager, athletisch, tadellos gekleidet, so schön wie nur je ein Mann, und seine blendend weißen Zähne zeigten ein unsicheres Lächeln.
»Hey-ho, Azo«, sagte er.
Warum diese Begrüßung? Wollte Jarl nur nett sein, oder war mit der Begrüßung ein Appell an ihre gemeinsame Geschichte verbunden? Definitiv Letzteres. Lange Sekunden standen sie einfach nur da und sahen einander an. Jarl war nicht hier, um ihn zu besuchen. Jarl machte keine Besuche. Um Gottes willen, der Mann war der Shinga. Ein wahrer Shinga, der Anführer der gefürchtetsten Sa’kagé in Midcyru.
»Wie in den neun Höllen hast du mich gefunden, Jarl?«, fragte Kylar, der ebenfalls nett war. Genau diese Frage hatte Jarl von Kylar erwartet, als er das letzte Mal unerwartet aufgetaucht war.
»Willst du mich nicht hereinbitten?«
»Bitte«, sagte Kylar. Er setzte ein wenig Ootai auf und nahm Jarl gegenüber Platz, der sich einen Stuhl am Fenster ausgesucht hatte. Schweigen.
»Da ist dieser Auftrag …«, begann Jarl.
»Kein Interesse.«
Jarl nahm es gefasst. Er schürzte die Lippen und sah sich fragend in dem bescheidenen Raum um. »Also, ähm … was ist es noch, das dir hier so gefällt?«
»Hat Momma K dich kein Taktgefühl gelehrt?«
»Ich meine es ernst«, entgegnete Jarl.
»Ich auch. Du tauchst auf, nachdem ich dir gesagt habe, dass ich dem Geschäft den Rücken gekehrt habe, und was tust du als Erstes? Du beleidigst das Haus, in dem ich lebe?«
»Logan lebt. Er ist im Loch.«
Kylar starrte ihn verständnislos an. Die Worte stießen gegeneinander und zersprangen auf dem Boden, Scherben, die im Licht der Wahrheit funkelten, aber das Ganze waren nur Splitter, zu scharf, um sie zu berühren.
»Alle Blutjungen arbeiten für Khalidor. Die Edelleute, die Widerstand leisten, haben sich auf die Anwesen der Gyres zurückgezogen. Mehrere der Grenzgarnisonen sind noch immer bemannt, aber wir haben keinen Führer, der uns einen könnte. Im Frost gibt es einige Probleme, die dem Gottkönig Sorgen bereiten, daher hat er noch nichts unternommen, um seine Macht zu festigen. Er denkt, dass die adligen Familien einander in Stücke reißen werden. Und wenn wir Logan nicht haben, hat er recht.«
»Logan lebt?«, fragte Kylar einfältig.
»Der Gottkönig lässt unsere früheren Blutjungen nach mir suchen. Es ist einer der Gründe, warum ich hierhergekommen bin. Ich musste fort aus Cenaria, bis wir die Nachricht verbreiten können, dass ich unter dem Schutz Kagés persönlich stehe. Unter dem Schutz des Schattens.«
»Nein«, sagte Kylar.
»Mit jedem Tag steigt das Risiko, dass Logan entdeckt wird. Anscheinend hat ihn keiner der Gefangenen im Loch erkannt,
aber sie haben angefangen, eine Menge Leute dort hinunterzuwerfen. Es freut dich vielleicht zu hören, dass Herzog Vargun einer davon ist. Betrachte es als kleinen Bonus. Wenn wir Logan retten, kannst du diesen perversen Kerl töten.«
»Was?«, fragte Kylar. Die Räder drehten sich zu schnell, als dass er noch mitkam. »Jarl«, sagte er. »Tenser ist nicht Tenser Vargun. Begreifst du denn nicht? Er hat sich ins Loch werfen lassen, um die härteste Strafe abzuleisten, die es gibt. Dann fördern sie den echten Baron zutage - lebend -, und Tenser wird freigelassen. Er kommt einen Monat später zu den Sa’kagé, mit einem Groll wegen seiner ungerechten Einkerkerung und der ganzen Macht eines Herzogs, und was passiert?«
»Wir nehmen ihn auf«, sagte Jarl leise. »Wie könnten wir der Versuchung widerstehen?«
»Und er vernichtet euch, weil er nicht Tenser Vargun ist«, sprach Kylar weiter. »Er ist Tenser Ursuul.«
Jarl lehnte sich verblüfft zurück. Nach einer Minute des Schweigens fragte er: »Verstehst du, Kylar? Das ist der Grund, warum
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