Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
als der ewige Mundgeruch und der Gestank der ungewaschenen Kleider Charlotte schon nichts mehr ausmachten und sie in der Hand, in der sie die Schöpfkelle hielt, schon kein Gefühl mehr hatte. »Bohnen oder Mais?« Sie hob nicht mal mehr den Blick. »Bohnen oder Mais?«, fragte sie, schon ein wenig ungeduldiger, da immer noch gut zwanzig Personen anstanden.
Der Mann ihr gegenüber war sehr schlank und hatte einen kahlrasierten Kopf, sah aber eigentlich gar nicht nach einem Obdachlosen aus. Trina hatte ihr gesagt, nicht alle, die sich hier eine Mahlzeit besorgten, lebten auf der Straße; es seien auch einige darunter, die gerade »eine negative finanzielle Situation« durchlebten. Sie redete tatsächlich so.
»Also … Bohnen?« Sie versuchte es noch einmal. Die Hände des Mannes zitterten; vielleicht war er ein Junkie. Er starrte sie an, und sie bekam allmählich ein mulmiges Gefühl. Vielleicht hatte Trina doch Recht damit, dass man nicht zu nett zu ihnen sein sollte. Seine Augen waren leuchtend blau, das fiel ihr auf. Hatte sie diese Augen schon mal irgendwo gesehen?
»Nee … nee … Sorry«, murmelte er, scherte aus der Schlange aus und verschüttete dabei etwas von seinem Tee.
Charlotte blickte sich zu Trina um, die sie beaufsichtigte und den Teefleck auf dem Fußboden missbilligend ansah. »Das muss jemand aufwischen, das verstößt gegen die Arbeitssicherheitsvorschriften.«
»Was war denn mit dem los?«
»Wer weiß.« Trina rief bereits eine Putzkraft. »Ich hatte mal einen, der mich für seine Mutter hielt. Der war überhaupt nicht mehr davon abzubringen. Kümmere dich nicht drum, bedien einfach weiter.«
Es war bloß so, dass sie glaubte, den Mann schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Sein Geruch, so ähnlich wie Schweiß, aber etwas süßer, irgendein Aftershave. Das hatte sie schon einmal gerochen. Und dieser Geruch stach hervor, inmitten des Gestanks von verkochtem Gemüse und ungewaschenen Kleidern, wie ein Glitzern in der Luft. Als sie mit der Essensausgabe fertig war und die benutzten Teller einsammeln ging, schaute sie sich im Saal nach dem blauäugigen Mann um. Doch er war spurlos verschwunden.
Als Nächstes kam Sarah vorbei.
Charlotte war nach ihrer Schicht im Obdachlosenasyl total fertig. Zu der üblichen körperlichen Erschöpfung, die sie von jedem ihrer Jobs heimbrachte, den Rücken- und Fußschmerzen, kam nun noch etwas anderes: Ihr war bis dahin nicht klar gewesen, wie viel Hoffnungslosigkeit es auf der Welt gab. So viele Menschen mit zitternden Händen, starrem Blick, ausfallenden Zähnen. Und was machte sie dort überhaupt? Sie hatte doch an einer guten Uni studiert. Ihr Vater arbeitete bei einer Bank. Nur zwei Monate zuvor hatte sie noch einen Job gehabt in einem der schicken Büros nur einen Steinwurf von dem Asyl entfernt.
Charlotte schleppte sich aus der U-Bahn-Station ans Tageslicht und blieb stehen. Es war ein schöner Nachmittag im Hochsommer. Hatte sie etwas gehört? An der Abzweigung zu ihrer Straße blieb sie abermals stehen und blickte sich um. Sie hätte schwören können, dass sie Schritte gehört hatte.
Die Straße hinter ihr war wie leer gefegt, und ein Sommerwind raschelte im Blattwerk der Bäume. Sie aber dachte an den Mann mit den blauen Augen und ging schnell weiter. Sein Geruch ließ sie nicht los. Wieso konnte sie sich nicht daran erinnern?
Völlig ausgelaugt kam sie schließlich vor ihrer Wohnungstür an und kramte nach ihren Schlüsseln. Sie sah, dass der Tragegurt ihrer Mulberry-Tasche, die, als sie noch neu war, so schön gewesen war, zusehends ausfranste, weil die Tasche ständig über Küchenfußböden geschubbert und in Personalspinde gestopft wurde. War auch ihre Lage hoffnungslos? Oder bedeutete der Gerichtstermin, dass es nun Hoffnung gab, dass Dan freikommen würde? Zehn Jahre mindestens, hatte er gesagt. DC Hegarty hatte ihr zwar nicht viel über seinen Besuch bei ihm erzählt, aber sie nahm an, dass Dan auch da nicht in allzu guter Verfassung gewesen war.
Keisha war in der Küche, als Charlotte die Wohnung betrat. Gähnend setzte sie gerade Tee auf. Charlotte fiel auf, dass sie immer noch ihr Club-T-Shirt trug.
»Du kommst aber spät«, sagte Charlotte. »Es ist schon drei.«
Keisha sah ihr nicht in die Augen. »Du wolltest doch, dass ich mich da ’n bisschen rumtreibe. Der Chef bringt mir gerade das Kochen bei.«
»Dieser Ronald? Der Bruder?«
»Hm? Ja.« Keisha fummelte mit den Teebeuteln herum.
Charlotte dachte an den Mann mit den
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