Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
ihren Sorgen hatte Charlotte gar nicht mehr daran gedacht, dass sie diese Straße eigentlich meiden sollte.
Obwohl es ein schwülwarmer Morgen war, hatte Charlotte in ihrer weißen Arbeitsbluse gezittert. Gehen wir doch ins Q, hatte er gesagt, da können wir uns in aller Ruhe unterhalten. Und sie, Gott steh’ ihr bei, in ihrer ersten Woche in ihrem ersten Job bei einer großen PR-Agentur, immer noch aufgeregt, dass sie nun einen Schreibtisch hatte und einen Eingangskorb und eine E-Mail-Adresse, hielt ihn für schwul – falls sie sich darüber überhaupt Gedanken gemacht hatte. Er trug schließlich Strickjacken, Himmelherrgott. Er trank Wodka Martinis und nannte jedermann »Schätzchen«. Und als ihr dann klar wurde, dass sie sich getäuscht hatte, tja, da war es schon zu spät gewesen, und sie wankte am nächsten Morgen zur U-Bahn, in ihren hochhackigen Schuhen, und legte sich für Dan die Lüge zurecht, dass sie bei Chloe hatte übernachten müssen.
O Gott. Ja, das war die Bar, wenn auch mit Rollläden verrammelt, und die Erinnerung tat so weh wie eh und je, wie wenn sie die wunde Stelle ihrer neuen Zahnlücke berührte. O Gott. Aber da sie schon spät dran war, musste sie den Schock schnell wegstecken. Sie ging weiter und dachte: Der Scheißkerl, der verdammte Scheißkerl .
Vor dem Obdachlosenasyl stand ein Grüppchen aus Männern und Frauen, mit Stella-Bierdosen in Plastiktüten. Charlotte ging mit eingezogenem Kopf schnell an ihnen vorbei, hörte aber eine der Frauen fragen: »Ey, kannste mir mal deine Visakarte leihn?« – und allgemeines Gelächter damit ernten. Charlotte wurde rot und drückte auf den Klingelknopf. Sie wünschte, sie könnte das loswerden, woran man offenbar auf den ersten Blick erkannte, dass sie aus der Mittelschicht kam. Sie konnte anziehen, was sie wollte, und es sich verbieten, »Wie bitte?« und so etwas zu sagen – die rochen das trotzdem drei Meilen gegen den Wind.
Die Frau, die sie in Empfang nahm – »Sag einfach Trina zu mir« –, hielt Charlotte eindeutig auch für jemanden aus der Mittelschicht. Obwohl sie weiß war, trug sie, wie viele aus ihrer Kundschaft, Dreadlocks und hatte sich die Arme tätowieren lassen. »Was ist denn mit Irina? Sonst kommt doch immer Irina.«
»Äh, ich glaube, die ist zurück nach Polen.«
»Oh.« Trina musterte Charlotte von oben bis unten. »Na, dann komm mal mit.«
Sie betraten den Speisesaal, und dort ging es so laut her, dass Charlotte sie nicht mehr verstand. »Wie bitte?« Ach, Mist.
Trina sah sie ungnädig an. »Du bist in der Mittagsschicht, habe ich gesagt. Warst du schon mal in so einem Asyl?«
»Natürlich«, log Charlotte und folgte ihr in die nach Putzmitteln riechende Küche. Ehrlich gesagt war sie es ziemlich leid, dass Leute wie Trina etwas gegen sie hatten. Sie konnte ja schließlich nichts dafür, dass sie gute Schulen besucht hatte.
Zum Mittagessen gab es Bohnen – natürlich, es gab immer Bohnen, damit man sich sein schönes Oasis-Shirt einsauen konnte. Es war eigentlich ein ganz normaler Job: Sie gab Brötchen aus, schöpfte Bohnenpampe auf die Teller und leerte und reinigte die riesigen Kochtöpfe, bis ihre Hände wund waren und nach Scheuermittel stanken. Und wie bei jedem anderen Job bemühte sie sich, nett zu sein, und lächelte, wenn sie fragte: »Bohnen? Brötchen?«
Doch wie bei jedem anderen Job machte sie zunächst mal anscheinend alles falsch. Sie dürfe nur entweder Butter oder Marmelade ausgeben, nicht beides, sagte Trina. Und sie solle die Leute nicht anlächeln. »Dann werden sie nur anhänglich. Man muss Grenzen aufzeigen, verstehst du?«
Eine lange Menschenschlange passierte ihre Bohnenkelle, dünne, zitternde Männer (Drogen, Missbrauch), laute Frauen mit fettigem Haar und fehlenden Zähnen (Alkohol, zerrüttete Familienverhältnisse). Nach einer Stunde tat ihr die Hand weh, und ihr Gesicht war verschwitzt. Alles in allem war sie weit entfernt von der Charlotte Miller, die nur wenige Monate zuvor jenen Club betreten hatte, kurz davor zu heiraten, und so glücklich, dass sie glaubte, die ganze Welt sollte sich um sie drehen. Es wäre daher nicht verwunderlich gewesen, wenn jemand, der sie früher einmal gesehen hatte, sie nicht wiedererkannt hätte. Doch andererseits kannte sie ihn ja auch nicht, hatte ihn nur einmal auf einem unscharfen Handyfoto gesehen und eventuell einmal, wie er sich an ihr vorbeigedrängt hatte und in einer Gasse verschwunden war.
Er kam fast am Ende der langen Schlange,
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