Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
Meinung waren, sie habe ihr Leben ruiniert.
»Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte Keisha, nachdem Sarah die Treppe hinabgestapft war.
»Hm?« Charlotte saß immer noch leicht verstört da.
»Wir sollten es aufschreiben. Wenn was nicht aufgeschrieben ist, glaubt’s auch keiner. Oder?«
»Stimmt.« Sie kämpfte sich hoch. »Aber Sarah hat auch Recht. Ich sollte mal meine Eltern anrufen.«
Gail war in Hochform. »Ach, Schatz, das weißt du doch: Du warst schon immer ein bisschen naiv. Dan hat gut auf dich aufgepasst, aber jetzt mache ich mir Sorgen. Manche dieser Leute warten nur darauf, jemanden wie dich auszunutzen.«
Pause. »Was meinst du damit: jemanden wie mich?«
»Na ja, Schatz, du hast doch diese große Wohnung, und ich denke mir, seine Eltern werden schon dafür sorgen, dass ihr sie irgendwie halten könnt, wohingegen von deinem Vater da natürlich nichts zu erwarten ist. Aber, na ja, du warst noch nie besonders gut darin, dich um dich selbst zu kümmern, nicht wahr? Erinnere dich mal daran, als du auf der Uni warst und in deiner Küche überall diese Schimmelflecken hattest. Da musste ich extra kommen und das wegmachen.«
»Um Gottes willen, Mum, da war ich achtzehn!« Das war wirklich die Höhe, aus dem Munde einer Frau, die, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, nicht mal selbst Auto gefahren war. Charlotte, ihre Mutter und ihr Bruder Jamie mussten ein Jahr lang den Bus nehmen, bis dann Phil auf der Bildfläche erschienen war.
»Du weißt, was ich meine. Sarah hat mir erzählt, dass er sich an diesem Ort nicht mal von dir besuchen lässt.« Sie konnte förmlich hören, wie ihre Mutter die Lippen schürzte. Die verdammte Sarah! Sie hatte es verdient, sich noch einen Zeh zu brechen, wenn nicht gleich alle.
»Er ist krank, Mum. Sie nehmen an, dass er eventuell an Epilepsie leidet. Es ist einfach nicht richtig, dass er dort sein muss.«
Gail zögerte. »Mir scheint nur, Schatz, wenn er nicht von dir besucht werden will …«
»Was dann?«
»… solltest du vielleicht auch nicht hingehen.«
»Und ihn einfach im Stich lassen?«
»Ja, ich weiß, es ist schwer! Ich fand ihn auch toll, zumindest anfangs – obwohl: Beim letzten Besuch war er schon ein wenig seltsam, nicht wahr, irgendwie kühl und so nervös. Ich habe wirklich zu Phil gesagt … Also: Jeder kann sich mal irren, Schatz. Schau dir mich und deinen Vater an.«
Charlotte biss die Zähne zusammen. Ja, vieles von dem, was Gail sagte, stimmte, aber dennoch: Er war ihr Vater.
»Und dann zieht dieses Mädchen bei dir ein. Sarah hat mir davon erzählt. Was ist sie überhaupt? Ein Halbblut?«
»Mum! So was sagt man nicht!«
»Ich kenne solche Leute doch nicht. Was sagt man denn? Eine Farbige?«
»Nein. Sie ist ein Mischling. Wieso musst du sie überhaupt irgendwie klassifizieren?«
»Weil sie, Schatz, nun mal so jemand ist.« Für Gail lag das absolut auf der Hand, und Charlotte fragte sich mit einem Mal: War sie selbst etwa auch so? War ein Teil von ihr sich die ganze Zeit nur allzu bewusst, dass Keisha anders war als sie, und handhabte dieser Teil diese Tatsache so vorsichtig wie eine Porzellanvase? Aber man konnte ja schließlich nichts dafür, wie man dachte, oder? Was man tat und was man sagte: Darauf kam es an.
So benommen und durcheinander Charlotte nach dem Telefonat mit ihrer Mutter auch war, ihre letzte Bemerkung nahm sie sich zu Herzen: »Wieso rufst du nicht mal deinen Vater an? Es wird wirklich Zeit, dass er mal was für dich tut.« Da hatte sie Recht. Das wurde es.
Das mit der Zeitverschiebung hatte Charlotte nie so ganz verstanden. Früher hatte ihr Dan dabei geholfen, und jetzt machte sie es genau falsch und rief bei ihrem Vater an, als es in Singapur vier Uhr morgens war.
»Wei ?« , meldete sich eine Frauenstimme. Hatte sie etwa eine falsche Nummer?
»Hallo? Ist Jonathan da? Tut mir leid, ich spreche leider kein …«
Die Frau am anderen Ende wechselte ins Englische, mit einem leichten Akzent. »Charlotte?«
»Ja! Äh … Stephanie?«
»Ja.« Es entstand eine längere Pause. »Wie geht es dir? Tut mir leid mit deiner Hochzeit.«
»Danke. Ja, es war schlimm.« Stephanie war nicht eingeladen gewesen, da sich Gail strikt geweigert hatte zu kommen, wenn auch »diese Holländerin« gekommen wäre. »Ehrlich gesagt, Stephanie, geht es mir nicht so besonders. Dan, na ja, lässt nicht mal zu, dass ich ihn besuche. Er hat immer noch keinen Anwalt, und jetzt wurde sein Gerichtstermin festgesetzt.«
»Ah. Willst du mit
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