Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
deinem Vater sprechen?«
»Ja, bitte. Tut mir leid, ist es bei euch sehr früh? Ich komme damit immer durcheinander.«
»Ja. Aber wir sind sowieso Frühaufsteher.« Stephanie legte den Hörer beiseite und sagte etwas in einer anderen Sprache – Holländisch? Verstand ihr Vater Holländisch? Sie versuchte, ihn sich in seiner Wohnung vorzustellen, die sie nie gesehen hatte, zusammen mit dieser Frau, an die sie sich nur undeutlich erinnern konnte, aus der Zeit, als sie zehn Jahre alt gewesen war. Charlotte hatte sich während des ganzen Abendessens im Hard Rock Café zu ihr hinübergelehnt, um den Duft ihres Parfüms einzuatmen, und hatte beschlossen, wenn sie mal groß war, wollte sie auch in so einer Duftwolke umherwandeln.
»Hallo?« Ihr Vater klang immer barsch am Telefon. »Es ist mitten in der Nacht.«
»Tut mir leid, Dad, ich hab das mit der Zeitverschiebung durcheinanderbekommen.«
»Macht nichts, jetzt sind wir wach. Geht’s dir gut?«
Sie zögerte. »Nein, eigentlich nicht. Kannst du mir helfen?« Sie erinnerte sich daran, wie sie ihn Daddy genannt hatte, als er an jenem Tag zu ihr gekommen war, und hatte das Gefühl, schon wieder den Tränen nah zu sein. »Ich muss einen Anwalt für Dan finden. Er weigert sich, selbst einen zu engagieren, und ich kann es mir nicht leisten, das zu bezahlen.«
»Schon gut, ganz ruhig.«
»S-sorry.« Ihr Vater konnte es nicht ausstehen, wenn sie weinte. »Kennst du irgendwelche Anwälte?«
»Es müsste ein guter Strafverteidiger sein, am besten mit Erfahrungen in Berufungsverfahren. Du bist damit ganz schön spät dran, fürchte ich.«
»Und ich müsste ihm vertrauen können. Ich meine: Wie die Beweislage aussieht … Derjenige müsste mir einfach glauben.«
Sie bekam mit, dass ihr Vater den Hörer beiseitehielt und etwas in dieser anderen Sprache sagte. Sie wartete. »Also gut. Stephanie kennt hier jemanden. Eine Australierin, die aber auch im Vereinigten Königreich zugelassen ist. Sie ist noch keine Kronanwältin und noch recht jung, aber bei deiner finanziellen Lage wäre das ja … Beim Honorar könnte ich dir wahrscheinlich ein bisschen unter die Arme greifen, darüber könnten wir reden«, sagte er widerwillig. »Aber das sage ich dir gleich: Komplett bezahlen kann ich das nicht.«
»Aber wie treffe ich sie?«
»Dazu müsstest du natürlich herkommen.«
Hatte ihr Vater sie schon jemals zu sich eingeladen? »Echt? Aber …«
»Ich geb dir was zum Ticket dazu. Du kannst doch verreisen, oder? Deine Mutter sagte, dass du nicht mehr zur Arbeit gehst.«
»Doch, ich arbeite, aber ich kann mir freinehmen. Und wann?«
»So bald wie möglich. Du bist schon sehr spät dran.«
»Okay.« Dann machten sie noch etwas Smalltalk – etwas, das ihr Vater überhaupt nicht beherrschte –, und schließlich legte sie auf und ging zurück in die Küche, immer noch wie benommen.
Keisha saß wieder mal auf dem Sofa und schaute Friends , die Füße auf dem Couchtisch und eine offene Flasche Cola auf dem cremefarbenen Teppichboden neben sich, die darin gerade einen Ring hinterließ. Charlotte dachte daran, was ihre Mutter gesagt hatte: Manche Leute warten nur darauf, jemanden wie dich auszunutzen . Auf dem Tisch lag auch ein Blatt Papier. Es sah aus, als hätte Keisha angefangen, ihre Aussage niederzuschreiben, dieses entscheidende Dokument, es nach wenigen Zeilen jedoch schon wieder aufgegeben.
»Hör mal, Keisha, es könnte sein, dass ich die Wohnung verkaufen muss, wenn ich wiederkomme.« Sie war verblüfft, sich das sagen zu hören. Aber wie sonst sollte sie Dan helfen? Sie musste bereit sein, Opfer zu bringen.
Bei Keisha schien das gar nicht anzukommen. »Ach ja? Woher zurück?«
»Singapur«, sagte Charlotte und staunte selbst darüber.
Keisha sah immer noch nicht auf. »Was is ’n das? ’n neuer Imbiss?«
Sagte sie solche Sachen eigentlich absichtlich? Und würde sie diese junge Frau wirklich hier wohnen lassen, mit all ihren Sachen, während sie fort war? Und was war mit dem Mann mit den blauen Augen? Aber nein, das bildete sie sich nur ein. Charlotte sah wieder zu dem Blatt Papier hinüber, mit Keishas Handschrift darauf. »Das ist ein Land. Ich verreise für eine Weile.«
Charlotte hatte beschlossen, sich für die Verabredung mit DC Hegarty etwas herauszuputzen. Vielleicht war sie den Anblick ihres Spiegelbildes leid, ewig erschöpft und missmutig, und vielleicht war sie es auch leid, immer in dieselbe ausgefranste Jeans zu schlüpfen. Es war nett, sich mal
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