Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
auch hießen, interessiert, denn es gab in seinem Leben und seinem Herzen einfach keinen Platz für sie.
Hegarty ließ die lahme Passkontrolle über sich ergehen. Dann trat er hinaus in das große, luftige Flughafengebäude, und am Springbrunnen wartete eine Frau auf ihn. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und trug ein Jeanskleid mit rotem Gürtel. Sonnenbrille ins blonde Haar gesteckt, feuchte Locken im Nacken.
Hegarty hatte es nie verstanden, wenn jemand sagte, sein Herz habe einen Schlag ausgesetzt oder kurz stillgestanden oder so. Doch als er die Ankunftshalle des Flughafens von Singapur betrat, verschwitzt und verknittert, in Shorts und T-Shirt, und Charlotte dort auf ihn warten sah, da kapierte er, was damit gemeint war. Gott, es war echt tragisch.
»Das ist das Raffles Hotel. Stephanie war neulich mit mir da. Da gehen wir einen Singapore Sling trinken, da gibt’s den besten.« Charlotte war wie verwandelt. Sie redete während der ganzen Fahrt in dem Taxi, das er auf ihr Anraten hin nahm – »Mit dem Bus dauert’s echt ewig«. Keine Spur mehr von den Tränen und der Ausgelaugtheit, die ihr in London anzusehen gewesen war.
»Gut sehen Sie aus«, sagte er unbeholfen. »Und Sie haben ja richtig Farbe bekommen.«
»Oh, danke.« Sie betrachtete ihre rosigen Arme. »Zu dem Apartmenthaus meines Vaters gehört auch ein Swimmingpool.« Sie zeigte aus dem Fenster. »Da ist der Zoo, falls Sie Zeit dafür haben. Können Sie wirklich nur eine Nacht bleiben?«
Oje, sie wollte, dass er länger blieb. »Kommt drauf an.« Ehrlich gesagt ging ihm allmählich das Geld aus. Er hatte für den Zwischenstopp in Singapur dann doch ordentlich draufzahlen müssen. Aber das musste sie ja nicht erfahren.
Sie zahlte das Taxi mit einem Bündel Geldscheine. »Kommen Sie, gehen wir was trinken.« Sie waren in der Hafengegend ausgestiegen, direkt am Meer. »Ist das nicht herrlich?«
»Dann sind Sie also froh, dass Sie hergekommen sind?« Er fühlte sich auch wie verwandelt – nämlich geradezu hilflos. Er hatte hier kein Dienstabzeichen, kein Notizbuch, keine Befugnisse. Sie hingegen schien sich hier zu fühlen wie ein Fisch im Wasser. Sie führte ihn durch die Hitze der Straßen zu einem Markt, wo sie frisch gegrillte Satay-Spießchen kauften und in der gewürzgeschwängerten Luft an einem Plastiktisch aßen.
»Hm? O ja, ich wünschte, ich wäre schon früher mal hergekommen. Mein Vater und Stephanie sind so gut zu mir – na ja, vor allem Stephanie. Er arbeitet viel, wie üblich. Aber sie ist unglaublich nett – und sehr vielseitig und gebildet. Und es tut so gut, mal von alldem wegzukommen.« Sie lehnte sich zurück und sog am Strohhalm eines rosafarbenen Getränks, das er auf ihre Bitte hin bei einem Straßenhändler gekauft hatte. Es schmeckte nach gezuckerten Rosen und war ekelhaft süß. Es war alles so anders als bei ihrem letzten Treffen im kalten Londoner Regen. Beide taten sie so, als hätte dieser Abend nie stattgefunden. »Wissen Sie, ich war so unglücklich. Ich war ein Wrack. Das ist mir erst so richtig klar geworden, seit ich hier bin.«
»Haben Sie denn schon einen Anwalt gefunden?«
Sie nickte, den Strohhalm im Mund. »Stephanie hat mir einen Termin bei einer australischen Anwältin besorgt. Sie soll für Fälle dieser Art genau die Richtige sein. Und sie ist bestimmt sehr nett – wenn sie mit Stephanie befreundet ist.«
»Na, das klingt doch alles wunderbar, oder?«
»Ja.« Eine Pause. Dann sah sie ihn an und wandte den Blick gleich wieder ab. Dachte sie an das Gleiche wie er, an den Regen und daran, wie er auf der Straße hinter ihr hergelaufen war?
Er verzog unwillkürlich das Gesicht, und sie bemerkte es. »Was ist denn? Mögen Sie das rosa Zeug nicht? Zu mädchenhaft?«
»Ja, ein bisschen.«
»Ich hole Ihnen einen Chai – das ist gewürzter Tee. Das wird Ihnen schmecken, warten Sie’s ab.«
Er sah ihr nach, wie sie zu dem Stand ging und sich dabei auf ihren Keilabsätzen zwischen den Tischen hindurchschlängelte. Alles war anders hier: die Luft, die Gerüche, sie, er. In London war er der Polizist, der Ermittlungen anstellte und ihren Verlobten festgenommen hatte. Sie war die Zeugin, die nach einem Ausweg suchte – wahrscheinlich ein aussichtsloses Unterfangen. Aber hier? Wer waren sie hier?
Charlotte kam mit einem dampfenden Plastikbecher zurück. Sie lächelte ihm entgegen, und er konnte nicht anders, als dieses Lächeln zu erwidern.
»Bitte schön.«
Er trank einen Schluck. Es schmeckte
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