Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
daran sehen Sie: Sie müssen auf sich aufpassen.«
»Dann glauben Sie mir also? Sie werden dem nachgehen?«
Er schwieg eine ganze Zeit lang. »Ich habe ihn festgenommen – Dan. Es war mein Fall.«
»Und? Wollen Sie, dass er im Gefängnis sitzt, obwohl er unschuldig ist?« Etwas brach aus ihr hervor: Wut, schreckliche Angst, und sie stand auf, um zu gehen.
»Warten Sie!« Er hob die Hände. »So habe ich das nicht gemeint. Ich kann nichts verwenden, was Sie beide durch Täuschung oder Hausfriedensbruch herausgefunden haben.«
»Sie arbeitet dort! Da ist dieser Mann, Ronald. Er ist der Bruder des Mannes, der gestorben ist.« Sie brachte es immer noch nicht über sich zu sagen: der umgebracht wurde . »Dieser Ronald würde eine Aussage machen, da bin ich mir sicher. Also … jedenfalls … Sie sollten ihn anrufen.« Sie zog eine Visitenkarte von Ronald hervor, die Keisha von seinem Schreibtisch stibitzt hatte. »Bitte. Fragen Sie ihn einfach nur, ob er irgendwas weiß. Von sich aus würde er nicht zu Ihnen kommen, denn damit würde er gewissermaßen Verrat an seiner Community begehen. Verstehen Sie?«
»Sie tragen Ihren Verlobungsring ja gar nicht mehr«, sagte Hegarty und nahm ihre Hand, deren Nagelhaut abgenagt war.
Augenblicklich wurde sie wütend. »Das geht Sie nichts an. Sie sind doch bei der Polizei, oder? Ich bitte Sie, sich neue Beweise anzusehen, echte Beweise, und Sie haben nichts Besseres zu tun als … Wozu zahlt man überhaupt Steuern?«
Darüber hätte er fast gelacht. Sie zog sich schnell ihren Regenmantel an und rauschte stinksauer zur Tür hinaus.
»Warten Sie, Charlotte! Kommen Sie zurück!«
Charlotte marschierte schwer aufgebracht zur Bushaltestelle. Wie konnte er es wagen! Eine Unverschämtheit! Nach wenigen Schritten wurde ihr klar, dass ihr nicht nur kalter Regen übers Gesicht rann – sondern auch Tränen. Der konnte sie mal. Auf den war geschissen, hätte Keisha gesagt. Die konnten sie alle mal.
»Warten Sie! Charlotte!« Sie sah sich um. Die Lichter der Ampeln funkelten im Regen, der auch die Rinnsteine entlangrauschte, und DC Matthew Hegarty lief ihr auf der Camdener Straße hinterher – nur im Hemd. »Warten Sie bitte!« Er hielt sie am Ärmel zurück, war außer Atem. Er roch nach Minzdrops, nach einem jungenhaften Aftershave, nach dem Regen, dem er ungeschützt ausgesetzt war.
Er war so anders als Dan, dieser Polizist. Er sah so jung aus mit seinem Adamsapfel, der über dem Kragen auf und ab hüpfte, und er blickte so eindringlich, als hätte er nur Augen für sie und sonst für nichts. Er hielt immer noch den Ärmel ihres Regenmantels fest, und sein billiges Hemd hatte der Regen inzwischen durchnässt, und darunter zeichnete sich rosig sein magerer Oberkörper ab. Wie lange war es her, dass ihr jemand auf der Straße nachgelaufen war, dass jemand sie so angesehen hatte? Jahre. Es war vielleicht sogar das erste Mal.
»Warten Sie«, sagte er noch einmal. Sie legte ihm eine Hand an die Wange, die eiskalt war, und er zitterte. Da wurde ihr klar, wie kalt sie sich selbst fühlte und wie unglaublich einsam und ausgelaugt sie war.
Hegarty
Den ganzen Flug von Australien herüber fand Hegarty keine Ruhe. Er dachte ununterbrochen, alle wüssten, was mit ihm los sei, und dass er überhaupt erst zum zweiten Mal in seinem Leben flog – beispielsweise die übertrieben geschminkte Stewardess, die einfach nicht aufhörte, ihn anzulächeln. »Alles recht so, Sir?«
»Ja, bestens.« In Wirklichkeit konnte er nicht still sitzen. Der enge Sitzplatz war nichts für seine eins fünfundachtzig, er kam sich vor wie ein Brief, der in einem viel zu kleinen Umschlag steckte. Er aß das in Folie eingeschweißte Essen, das man ihm auf einem Tablett brachte, Kondenswasser haftete an der Butter, und rammte dem Fettsack neben ihm wiederholt versehentlich seinen knochigen Ellbogen in die Seite. Dann setzte er sich die Schlafmaske auf, zog sich Socken an, blies sein Reisekissen auf und versuchte zu schlafen, aber seinem Körper war nicht klar, wie spät es war, und er war sowieso zu aufgekratzt angesichts all dessen: sein erster richtiger Auslandsurlaub, Toms Hochzeit, die nun hinter ihm lag, und als wäre das alles noch nicht genug: Singapur. Singapur und sie. Dann musste er aber doch eingeschlafen sein, denn er wurde einige Zeit später davon wach, dass die Blenden an den Fenstern hochgezogen wurden und grelles, klares Licht hereindrang, und dann brachte ihm die Stewardess eine beinahe identische
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