Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
war es nicht. Er wusste ganz genau, was er wollte. Er wusste aber auch nur zu gut, warum er es nicht haben konnte – zumindest nicht jetzt. Und vielleicht ging es dem Scheißkerl Stockbridge ja ganz ähnlich.
Teil sechs
Charlotte
Dans Prozess begann an einem Montag im Oktober. Die Medien fanden sich schon in aller Frühe vor dem Crown Court ein und schlugen auf dem morgendlich feuchten Pflaster ihr Lager auf. Fernseh-, Radio- und Zeitungsberichterstatter waren gekommen, und alle waren sehr gespannt auf diesen Fall eines wohlhabenden Bankers, der tief gefallen war. Charlotte, zitternd und bleich, fuhr in einem Taxi am Hintereingang vor und wurde durch lange Korridore zum Zeugenzimmer geführt. Während sie dort saß und ihr leerer Magen revoltierte, hörte sie, wie sich der Saal nebenan zu füllen begann. Sie hörte Schritte, Hüsteln, Gemurmel. Sie saß ganz still, senkte den Kopf und blickte auf ihre Füße hinab. Auch hier war der gleiche Fußboden verlegt wie auf der Gerichtstoilette: der getüpfelte Kunststoff, die kleinen Inseln. Charlotte machte die Augen zu, atmete tief ein und aus und gab sich Mühe, nicht ohnmächtig zu werden.
Sie hörte Rufe, die lauter wurden und wieder verklangen. Jetzt wurde wohl Daniel Stockbridge hineingeführt, mutmaßlicher Mörder, blamierter Banker und ihr Verlobter. Wenn er das denn noch war. Sie hatte ihn schon so lange nicht mehr gesehen. Sie schob die Erinnerung daran beiseite, wie sie Matthew Hegarty geküsst und sich ganz nah an ihn geschmiegt hatte. Sie hatte ihn seitdem nicht mehr gesprochen. Nicht jetzt. Das war jetzt nicht die Zeit.
Sie wusste, dass Kylie plante, als Allererstes die Ungültigkeit des Verfahrens feststellen zu lassen, wegen der wilden Spekulationen, die die Medien in diesem Fall angestellt hatten. Wie konnte es noch ein fairer Prozess sein, wenn sie ihn als Banker Butcher bezeichneten? Charlotte wartete gespannt, doch nichts geschah. Der Antrag musste abgeschmettert worden sein.
Sie wartete weiter. Jetzt, das wusste sie, waren sie bei der Frage nach dem Schuldeingeständnis. Wenn er tat, was er angedroht hatte, und sich tatsächlich schuldig bekannte, konnten sie alle sehr bald nach Hause gehen, und das war’s dann. Charlotte hielt den Atem an. Bitte nicht .
Die Tür ging auf, und ein Justizangestellter kam herein, das Haar quer über die Halbglatze gekämmt. Sie hob den Blick, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Ist es …?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie wurden aufgerufen, Miss.« Sie atmete auf. Gott sei Dank. Er hatte sich nicht schuldig bekannt. Als sie aufstand, knickten ihr fast die Beine ein.
»Alles in Ordnung, Miss?«
»Ja. Ja, es geht schon.«
Als Charlotte den Saal betrat, erhob sich ein Gemurmel. Sie lief rot an und hielt den Blick gesenkt. Immer einen Schritt nach dem anderen, wie Dan gesagt hatte.
Dann hob sie den Blick, in den schwindelerregend hohen Saal, zu den Zuschauerrängen und dem Gerichtswappen an der Wand. Hierher war Dan gekommen, um so etwas wie Gerechtigkeit zu erfahren. Diese Leute dort, die Reihe der Gesichter auf der Geschworenenbank, würden sich nur die Fakten ansehen, so wie Kylie und der Staatsanwalt sie ihnen präsentieren würden. Dann würden sie entscheiden, welche Präsentation ihnen besser gefiel. Sie würden richten.
Dan trug seinen fünftausend Pfund teuren Prada-Anzug, den seine Mutter ihm ins Gefängnis gebracht hatte. Er stand aufrecht vor der Anklagebank, aber die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, war schockierend. Sein gebräunter Teint hatte sich in den Monaten der Haft gelb verfärbt und erinnerte an einen alten, eingetrockneten Teebeutel. Über einem Auge hatte er etwas, das nach einem verheilenden Bluterguss aussah, und sein Haar war radikal, aber unregelmäßig kurz geschnitten. Dan war eitel, was sein Haar anging, und dass er es zugelassen hatte, so schlecht frisiert zu sein, schockierte Charlotte mehr als alles andere. Er sah aus wie ein anderer Mensch. Sein leicht benommen wirkender Blick schweifte umher und entdeckte sie schließlich auf ihrem Sitzplatz. Was sie sah, tat ihr so weh, dass sie die Erste war, die den Blick wieder abwandte.
Da war der Richter, der mit seiner sachlich-nüchternen Art ganz dem gängigen Klischee entsprach. Er trug eine weiße Perücke auf seinem weißen Haar. Es gab einleitendes Geplänkel, bei dem sich Kylie und der Staatsanwalt, Adam Hunt, beide in Talar und weißer Perücke, erhoben.
Kurze Pause. Dann sah Adam Hunt direkt zu ihr herüber.
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