Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
lassen.«
Er zog ein wenig den Kopf ein. »Ja, nach Singapur … hielt ich das für das Richtige.«
Sie erwiderte ganz ruhig: »Ich habe Ihnen da ganz schön was eingebrockt, was?«
»Nein. Na ja. Egal.« Ja, das hatte sie, aber es war im Grunde nicht ihre Schuld.
»Das sollte Ihr großer Fall werden, stimmt’s?«
»Das nützt ja alles nichts, wenn es auf einem Fehler beruht. Wenn ich falschlag … wenn er freikommt …«
»Glauben Sie, das wird er? Ich weiß es nämlich wirklich nicht mehr. Eine Zeit lang war ich mir sicher, bei allem, was wir rausgefunden haben, aber jetzt weiß ich es nicht mehr. Kylie hat all diese Dinge zusammengetragen, die sie mir vorhalten werden und mit denen sie versuchen werden, alles zu verdrehen. Und Keisha hat immer noch nicht gesagt, ob sie überhaupt aussagen wird. Und ich glaube, sie hat neulich Chris im Gefängnis besucht. Sie hat geweint.«
»Oh.«
Sie ging ein paar Schritte auf und ab. »Ihr könntet sie festnehmen. Nicht wahr?«
»Wollen Sie das wirklich?«
»Ich weiß es nicht! Und ich bin mir nicht mal mehr sicher, was damals passiert ist. All diese Beweise …« Sie stand mitten in seinem muffigen Wohnzimmer, und das blonde Haar fiel ihr den Rücken hinab. »Matt? Was meinen Sie?« Sie hatte ihn noch nie so genannt.
»Ich weiß es auch nicht.«
»Und dann dachte ich: Was, wenn er rauskommt? Wissen Sie, ich hab seit Monaten nicht mehr mit ihm gesprochen. Er lässt sich immer noch nicht von mir besuchen. Von seinen Eltern und von Kylie, ja – aber nicht von mir.«
Was wollte sie von ihm? Glaubte sie etwa, er fände es betrüblich, dass Stockbridge sie nicht sehen wollte? »Tja, keine Ahnung. Das müssen Sie unter sich ausmachen.«
Sie lachte. »Sie sagen das so, als hätte das gar nichts mit Ihnen zu tun.«
Er schwieg kurz. »Hat es ja auch nicht.«
Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Das sagen Sie jetzt, aber Sie haben sich ja aus einem bestimmten Grund von dem Fall abziehen lassen, oder?«
Er schwieg.
»Kommen Sie, Matt.«
»Bringen Sie mich nicht dazu, es zu sagen.«
»Also gut«, sagte sie, ging die letzten beiden Schritte auf ihn zu, schlang ihm die Arme um den Hals und küsste ihn.
Dieser Kuss schien sehr lange zu währen, auch wenn er in Sekundenschnelle vorüber war. Hegarty hatte sich das ausgemalt, solange er sie kannte, seit er sie an jenem Morgen das erste Mal gesehen hatte, verschlafen und ängstlich: ihren Körper an seinem zu spüren. Ihr offener Trenchcoat entblößte ihr leichtes Sommerkleid, und er hörte in ihrer Kehle, wie ihr der Atem stockte. Als er ihren Hals küsste, schmeckte die Haut ein wenig salzig. Ihr Mund war weich. Ihre Hände fuhren in sein feuchtes Haar, und er spürte, wie sie sich mit dem ganzen Leib an ihn lehnte. »Oh.«
Da löste er sich von ihr, schob sie von sich, und sie sahen einander an. »Warum haben Sie das getan?«, fragte er, als er wieder ein Wort herausbekam.
»Weil ich es wollte. Schon sehr lange. Sie nicht?«
Er seufzte – ein tiefer, tiefer Seufzer. »Das geht nicht. Nicht jetzt.«
»Aber ich dachte, Sie …«
»Ja, natürlich. Jede Minute, wenn ich Sie sehe. Aber der Prozess beginnt nächste Woche. Sie wollen das nicht tun, nicht, solange er Sie noch braucht.«
»Er scheint nicht der Ansicht zu sein, dass er mich braucht«, sagte sie und verschränkte die Arme. »Ich meine: Er liebt mich nicht mehr, oder? Das ist ja wohl mal klar. Er gibt sich keine Mühe. Er wird nicht mal aussagen, dass er es nicht getan hat.« Ihre Stimme zitterte.
»Ich weiß. Aber trotzdem. Es wäre nicht richtig.«
»Mein Gott, Sie sind ja geradezu besessen davon, was richtig ist und was nicht!« Sie raffte ihren Trenchcoat zusammen. »Es tut mir wirklich leid um Ihren Fall und, na ja, dass ich Ihnen da solche Schwierigkeiten bereitet habe.«
»Schon okay.« In welche Schwierigkeiten sie ihn tatsächlich gestürzt hatte und wie wenig er sich je ändern würde – sie würde es ja ohnehin wahrscheinlich nie erfahren.
An der Tür angelangt wandte sie sich noch einmal um und küsste ihn neben den Mund. Es war ein Kuss, der etwas verheißen sollte, ein Kuss, nur Millimeter an der Wahrheit vorbei. Seine Hand, als hätte sie ein Eigenleben, griff ihr in den Nacken. Dann löste er sich von ihr. »Nein. Nicht.«
»Schon gut, schon gut. Gott, was ist das bloß mit euch Männern, dass ihr nie wisst, was ihr wollt?«
Während er lauschte, wie sie auf ihren hohen Absätzen das kahle Treppenhaus hinunterging, dachte er: Nein, das
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