Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
großen Bogen um sie. Die können dich auch einbuchten, hatte Chris gesagt. Sie wollte nicht daran denken – auch nicht daran, was er sonst noch gesagt hatte. Am besten erst mal schön den Ball flachhalten.
Keisha ging weiter und fand sich zu ihrem nicht allzu großen Erstaunen einige Zeit später vor der Church of Holy Hope wieder. Vielleicht war diese Kirche, nachdem das Haus ihrer Mutter geräumt war, der letzte Ort, der sie noch an Mercy erinnerte. Sie schlüpfte durch die nicht abgeschlossene Tür in den Saal hinein – Kirchen standen anscheinend immer offen – und setzte sich ganz hinten auf einen der Plastikstühle. Das Gebäude um sie herum war leer und still, und die bescheuerten selbstgemachten Plakate lösten sich ganz langsam von den Wänden.
Sie dachte an Charlotte: wie die ihre ganze Zeit damit verbrachte, mit Dans Eltern in der Gegend rumzudüsen, Interviews zu geben und sich damit zu befassen, was an den jeweiligen Tagen vor Gericht geschah. Keisha war noch kein einziges Mal da gewesen. Und sie fragte auch gar nicht mehr, wie es lief. Sie hörte Charlotte nachts oft weinen, und das verriet ihr so ziemlich alles, was sie wissen musste. Währenddessen ging die Scheiße in den Zeitungen weiter, obwohl der Richter gesagt hatte, die sollten damit aufhören. Aber die hörten einfach nicht auf ihn.
»Mum«, flüsterte sie. »Ich brauche Hilfe.« Aber da kam natürlich keine Antwort. Dann hörte sie ein Geräusch und wäre vor Schreck fast aus der Haut gefahren. »Oh Gott!«
»Nein, ich bin’s bloß.« Der Pastor. Er lief da in Pantoffeln rum. »Die junge Keisha, nicht wahr? Die Tochter von Schwester Mercy?«
»Ja.« Sie wollte ihm erklären, was sie hier machte, aber ihr wurde klar, dass sie das nicht konnte.
Er setzte sich zu ihr, mit knackenden Gelenken. Sie sah nach vorne zum Altar, der von der Sicherheitsbeleuchtung ein wenig erhellt wurde. »Wozu ist das alles da?«, fragte sie. »Warum kommen die Leute hierher?«
Er legte seinen leeren Ärmel zurecht. »Aus vielen Gründen. Um Trost zu finden oder Geselligkeit. Warum bist du hierhergekommen?«
»Weiß nich.«
»Suchst du vielleicht Antworten? Brauchst du Hilfe?«
»Ich will wissen, was ich tun soll«, sagte sie leise in den stillen Saal hinein. »Sehen Sie, es gibt da so eine Sache … und einige Leute wollen, dass ich das mache. Ich weiß aber nicht, ob ich es machen soll oder nicht.«
»Aber ich glaube, du weißt bereits, was die richtige Entscheidung wäre. Das ist eigentlich immer so.«
Sie sah immer noch nach vorne. »Ich habe Angst.«
»Das ist normal.« Er hielt seinen leeren Ärmel hoch. »Siehst du das? Diese Hand wurde mir genommen, weil ich etwas tat, was ich für das Richtige hielt. Ich habe Ja gesagt, nicht Nein. Auch ich hatte damals Angst, als sie mit der Machete kamen.«
Sie hätte am liebsten gesagt: Ja, aber da waren Sie ja wahrscheinlich in irgend’nem Krieg oder so und nicht in Nordlondon. »Ich bin aber nicht so tapfer.«
»Wie tapfer man sein kann, erfährt man erst, wenn man tapfer sein muss. Ich sage dir: Vorher kann man das unmöglich wissen.«
»Na toll.«
Er lachte leise, stand auf und legte ihr seine verbliebene Hand auf die Schulter. Da war wieder dieser Altkleidergeruch.
Keisha saß noch eine Zeit lang in der kühlen, dunklen Kirche. Dann stand sie auch auf und wagte sich wieder ins Verkehrsgetöse hinaus.
Die Bücherei war noch geöffnet, als sie dort ankam, die Fenster leuchteten in einem warmen Orange. Keisha hatte sich Sorgen gemacht, dass Julie vielleicht nicht da sein würde, aber sie saß an ihrem Pult und stempelte Bücher. Wenn das kein Zeichen war. »Ah, Sie sind’s! ›Shondra‹.«
»Ja, ich mal wieder.« Keisha lächelte nervös.
»Lassen Sie mich raten: Sie wollen Jordans neuestes autobiographisches Werk studieren. Wie geht es Ihnen?«
»Gut.« Ihr wurde bewusst, dass sie immer noch kein richtiges Zuhause hatte, keinen richtigen Job und ihre Tochter nicht wieder, aber irgendwie ging es ihr besser als damals, als sie Julie das letzte Mal gesehen hatte. Sie wusste nicht so recht, inwiefern, aber es war so. »Man schlägt sich so durch …«
Julie sah sie über ihre Brille hinweg an. »Auf jeden Fall. Was kann ich für Sie tun?«
»Tja.« Keisha beugte sich auf Ellenbogen über den Tresen. »Haben Sie irgendwelche Bücher über juristische Dinge?«
Julie sprang von ihrem Bürostuhl auf. »Na endlich! Ich hab’s Ihnen ja gesagt: Ich hab einen spannenden Beruf!«
Charlotte
Jamie
Weitere Kostenlose Bücher