Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
Miller saß zusammengesunken auf dem Sofa. Sie trug eine Trainingshose und ein Sweatshirt, das ihr viel zu groß war – von Stockbridge, nahm er an. Ihre Augen waren rot und verquollen. Hegarty spürte Verärgerung in sich aufsteigen. War sie noch ganz bei Trost, da so zu sitzen, alle Türen offen – während er ständig mit weinenden Frauen zu tun hatte, die überfallen worden waren, mit Blutergüssen an den Schenkeln und Wimperntusche, die ihnen über die Wangen rann?
»Miss Miller? DC Hegarty. Sie erinnern sich?«
Sie nickte.
»Darf ich reinkommen?« Ihr Gesicht war von blauen Flecken entstellt. Er konnte kaum hinsehen.
»Sie sind doch schon drin.« Sie blickte nicht zu ihm hoch.
»Wollen Sie mir erzählen, was passiert ist?« Er hatte auf dem Weg herauf die Eingangstreppe gesehen.
Sie seufzte. »Würde das irgendwas bringen? Irgendwelche Jugendlichen haben mich mit irgendwas beworfen, und irgendjemand hat meine Eingangstreppe beschmiert. Alles halb so wild, schätze ich mal.«
»Und was ist mit dem Überfall im Gerichtsgebäude? Wollen Sie dazu eine Aussage machen?«
Sie schien darüber nachzudenken, schüttelte dann aber ganz langsam den Kopf. »Dafür erinnere ich mich nicht gut genug daran.«
»Wenn Sie mir etwas darüber erzählen würden, könnten wir die Täter vielleicht finden. Es waren zwei junge Frauen, nicht wahr? Fällt Ihnen irgendein Grund ein, weshalb Sie zum Opfer dieses Überfalls geworden sind? Vielleicht haben Sie in dem Club etwas gesehen, das Ihnen nicht wichtig erschien, das aber …«
Sie setzte eine abweisende Miene auf. »Bitte. Ich kann mich kaum daran erinnern. Und ich möchte nicht darüber sprechen.« Sie schauderte, als erinnerte sie sich durchaus. Hatte sie Angst, war es das?
»Sie haben ganz schön was durchgemacht.« Er ließ den Blick durch die Wohnung schweifen. Eine Woche war seither vergangen, und es war schmutzig hier und roch muffig. »Heute ist bestimmt ein schwerer Tag für Sie. Es war doch heute, nicht wahr?«
Sie blickte immer noch nicht auf, doch nun liefen ihr Tränen über die Wangen. »Ich kann es einfach nicht fassen. Ich glaube, ich stehe unter Schock.«
Hegarty hasste es, Frauen weinen zu sehen. »Äh … ich hole Ihnen ein Taschentuch.« Er sah sich hektisch um, und sie lachte und wischte sich mit dem Ärmel über ihr wunderschönes, ramponiertes Gesicht. »Die habe ich alle aufgebraucht. Es sind keine mehr da.«
Er ließ sich vorsichtig auf der anderen Seite des Ledersofas nieder. Die Wohnungseinrichtung war ein eigentümlicher Mix: minimalistisch anmutende Möbel, wie man sie von einem Macho-Arschloch wie Stockbridge erwarten würde, aber hier und da auch Potpourris, Blumenkissen und rosa Teller. Kleine Spuren der Anwesenheit der Frau, die da neben ihm saß. »Wollen Sie nicht jemanden bei sich haben, Ihre Mutter oder so?«
Da lachte sie wieder. »O Gott. Bloß nicht. Die geht mir fürchterlich auf den Keks. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie mich ansehen und sagen würde: Oh, es ist zehn Uhr, jetzt hätten wir beim Friseur sein sollen; oh, es ist eins, jetzt wärest du vor den Altar getreten …« Ihr kullerten wieder Tränen aus den Augen, ihre zarten Wangen hinab. Diese Frau sah sogar noch gut aus, wenn sie weinte. »Tut mir leid. Das ist der Schock, nehme ich an. Heute hätte alles um mich her perfekt sein sollen. Wissen Sie, was das Hochzeitskleid gekostet hat? Viertausend Pfund. Und dann wird es nicht mal getragen!«
Hegarty war ratlos. Was sagte man zu einer Frau an dem Tag, an dem sie eigentlich hätte heiraten sollen? »Soll ich Ihnen eine Tasse Tee machen oder so? Es ist schon fast Mittagszeit.« Ach, Mist, Mittag sagte man in diesen Kreisen ja nicht. Man sagte Lunch .
Zu seinem Erstaunen wischte sie sich übers Gesicht und antwortete: »Ja, bitte. Ich war noch nicht in der Lage aufzustehen.«
Er ging in die Küche, öffnete diverse leuchtend rote Schränke und fand ihren teuren Tee – Baumwollbeutel! Eine Teekanne fand er nicht; Tassen mussten genügen. »Haben Sie Milch?«
»Oh, das weiß ich nicht. Ist das wichtig?«
Dann tranken sie ihn eben schwarz. Irgendwelche Kekse vielleicht? Im Kühlschrank entdeckte er Yorkshire Teacakes und konnte es sich nicht verkneifen zu fragen: »Sie sind aus dem Norden? Tatsächlich?«
Sie sah sich nicht um. »Meine Mutter wohnt da oben. Im Lake District.«
»Da komme ich auch her. Aus Barrow.« Sein Akzent kam zum Vorschein, kam herbeigeeilt wie ein übereifriger Hund. »Es ist selten,
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