Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
darüber nachzudenken. Obwohl sie sie gar nicht kannte und obwohl sie aus dem bisschen, was sie über sie wusste, den Eindruck hatte, sie wäre eine hochnäsige Zicke, ging sie zu ihr. Um ihr zu helfen und sie zu warnen. Um rauszukriegen, was sie gesehen hatte. Sie wusste echt nicht, was sie da geritten hatte.
Nie im Leben hätte sie damit gerechnet, da zu übernachten, und wenn ihr jemand gesagt hätte, dass sie mehr oder weniger da einziehen würde, hätte sie gesagt: Ja, klar, verarschen kann ich mich selbst. Auch wenn sie, ehrlich gesagt, gar keinen anderen Ort mehr hatte, wo sie hinkonnte. Aber als sie dann mit ihrer ganzen Geschichte rausgerückt war, alles durcheinander und außer Atem, und sich dabei bestimmt wie eine Bekloppte angehört hatte, war Charlotte, als sie endlich verstanden hatte, was Keisha ihr sagen wollte – dass nämlich ihr Typ möglicherweise gar nicht derjenige war, der Anthony Johnson kaltgemacht hatte –, kalkweiß im Gesicht geworden, war umgekippt und hatte sich, bums, den Kopf am Tisch geschlagen. Danach wär’s ihr nicht richtig vorgekommen, einfach wieder zu gehen und sie allein zu lassen, voll verwirrt und in Tränen aufgelöst, wie sie war, und wo hätte Keisha denn auch hingewollt? Sie hatte kein Geld mehr für das Hostel und konnte die vor Schamhaaren wimmelnden Duschen nicht mehr ertragen. Außerdem – auch wenn sie nicht gerne daran dachte – gab es definitiv einen Grund dafür, dass Chris hinter dieser Frau her war. Sie hatte irgendwas gesehen, wusste aber offenbar noch nicht, was es war. Und so kam es, dass Keisha jetzt, irgendwie, mit dieser blonden Schlampe zusammenwohnte. Es war total schräg. Aber ihnen beiden blieb gerade keine andere Wahl.
Nachdem sie wie eine Verrückte vor Rubys Schule rumgelungert hatte, brach Keisha in Richtung Gospel Oak auf. Es regnete mal wieder, und sie zog die Schultern hoch. Mit dem Bus wäre es schneller gegangen, aber so führte sie ihr Weg an der Church of Holy Hope vorbei, und so ätzend der Laden auch war, ging sie doch schon zum dritten Mal hin.
Das war alles Charlottes Schuld. An dem Tag, an dem sie den Umschlag aus dem Pflegeheim abgeholt hatten, war Keisha klar geworden, dass sie all die Rechnungen niemals würden bezahlen können, wenn sie in irgendwelchen Heimen oder Drogenkliniken jobbten. Nein, wenn es für Charlotte wirklich eine Herzensangelegenheit war, diese überteuerte Wohnung zu behalten, brauchten sie bessere Jobs.
Charlotte aber war noch nicht so weit, das sah selbst ein Blinder mit ’nem Krückstock. Es war schon ein guter Tag, wenn sie nur zwei- oder dreimal in Tränen ausbrach, während sie beispielsweise die Nachrichten guckte (und da irgendeine Gefängnisstory kam), die Wäsche machte (und einen Socken von Dan in ihrem Korb fand) oder eine E-Mail kriegte (und irgendeine fiese Freundin von ihr sie nicht zu einem Abend bei Wein und Käse eingeladen hatte oder so). Die Frau glich einem undichten Wasserhahn; man wusste nie, wann es wieder losging.
Blieb es also an Keisha hängen, ihr zu helfen – der armen reichen Tussi. Denn das Irre war ja: Obwohl Keisha gerade erst auf die Fresse bekommen und Schluss gemacht und Mutter und Tochter verloren hatte und sich nun mit dem Gedanken abplagen musste, den Vater ihres Kindes eventuell in den Knast zu befördern, tat Charlotte ihr wirklich leid. Sie war wie ein Mädchen, dessen kleiner Hund vom Eiswagen überfahren worden war. Als ob sie wirklich nicht wüsste, als ob ihr keiner je gesagt hätte, dass das Leben auch scheiße sein konnte. Und darum half Keisha ihr. Und ging zu dem verdammten Pastor Samuel.
Dann stand sie wieder in der Vorhalle und kämpfte gegen ihre Nervosität an. Es war ja schließlich nur ’ne Kirche, oder? Sie konnte da reingehen, wenn sie wollte. Die würden schon nicht von ihr verlangen, dass sie auch so eine Scheiß-Christin wurde. In dieser Vorhalle hingen Plakate zu ganz normalen Themen – Kuchenbasare, fairer Handel mit Entwicklungsländern –, aber auch zu so Sachen wie Vorträgen über Hexerei und Meetings darüber, wie man’s vermeiden konnte, vor der Hochzeit flachgelegt zu werden (das war jedenfalls damit gemeint). Das war es, woran ihre Mutter geglaubt hatte. Das war der Ort, an den Mercy zehn Jahre lang jede Woche gekommen war. Keisha ging hinein. Es war still in der Kirche, der Verkehrslärm kaum mehr zu hören. Ihre Schuhsohlen quietschten auf dem Kunststoff-Fußboden.
»Herzlich willkommen!«
Herrgott! Sie zuckte zusammen,
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